Saturday, February 18, 2023
Ein Jahr Zeitenwende: Die Deutschen und der Krieg
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Ein Jahr Zeitenwende: Die Deutschen und der Krieg
Artikel von Berthold Kohler • Vor 2 Std.
„Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt“ – diesen Satz, früher auf Denkmälern, Postkarten und Wandtellern zu lesen, sieht und hört man schon lange nicht mehr. Nur noch wenige deutsche Politiker wollen sich als Kenner Bismarcks outen, geschweige denn als dessen Bewunderer. Zudem ginge die Aussage längst weit an der Wirklichkeit vorbei.
Deutschland muss wieder der seit der Antike bekannten Empfehlung folgen: Si vis pacem para bellum - wenn du Frieden willst, rüste dich für den Krieg.
Wahrer wäre: Wir Deutschen fürchten nicht mehr Gott, sondern fast alles andere auf der Welt: den Klimawandel, die Kernkraft, den Atomkrieg, die kulturelle Aneignung. Denkt das Ausland an Deutschland in der Nacht, dann fällt ihm nicht mehr Bismarck oder der preußische Militarismus ein, sondern „le Waldsterben“ und, im Englischen zu einem geflügelten Wort geworden, die „German Angst“.
Auf die hat gewiss auch Putin gesetzt, als er den Befehl zum Überfall auf die Ukraine gab. Selbst in seiner imperialistischen Verblendung muss ihm klar gewesen sein, dass die Reaktion des Westens nicht mehr so – fatal – moderat ausfallen würde wie nach der Annexion der Krim. Schon damals erinnerte Putin zur Absicherung seiner Beute daran, dass er nicht nur über „grüne Männchen“ verfüge, sondern auch über Atomwaffen. Das funktionierte aus seiner Sicht so gut, dass er beim Griff nach der ganzen Ukraine wieder eine nukleare Drohkulisse errichtete, um den Westen davon abzuhalten, den Überfallenen zur Hilfe zu kommen, vielleicht sogar mit eigenen Truppen.
Die Drohung mit einer Eskalation des Krieges verfehlte ihre Wirkung nicht, nicht einmal bei der Supermacht USA, die so wenig Kriegspartei werden will wie ihre europäischen Verbündeten. Nirgendwo aber ist die Angst, in den Krieg hineingezogen zu werden, so laut und deutlich zu einer Leitlinie für die eigene Politik erklärt worden wie in Berlin. Im Zentrum des Zögerns bei den Waffenlieferungen stand die Sorge, die Ukrainer könnten mithilfe der deutschen Waffen den russischen Invasoren derart demütigende Niederlagen beibringen, dass Putin, der in der Ukraine mittlerweile auch um den Fortbestand seines Regimes kämpft, Massenvernichtungswaffen einsetzen oder sogar NATO-Gebiet angreifen könnte.
Auch Wladimir Putin hat auf die „German Angst“ gesetzt, als er den Befehl zum Überfall auf die Ukraine gab.
Minsk hat Putin so wenig aufhalten können wie München Hitler
Putin am 9. Dezember 2019 mit Kanzlerin Merkel, Frankreichs Präsident Macron und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Elysée-Palast in Paris
Putin war lange genug KGB-Agent in Dresden, um zu wissen, dass die Deutschen nichts mehr fürchten als den Krieg und sich nichts mehr wünschen als den Frieden sowie ein möglichst gutes Verhältnis zu Russland. Das sollte angesichts der deutschen Geschichte niemanden verwundern.
Putin aber hat das seit Willy Brandts Zeiten breite Verständnis für Russlands Positionen und die bis zur Selbsttäuschung gehende Verständigungsbereitschaft nicht als Stärke interpretiert, sondern als Zeichen von Schwäche. Dass Deutschland sich immer tiefer in die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen begab, sogar noch nach der Annexion der Krim, kann ihn nur in dem Glauben bestärkt haben, von Berlin sei nur wenig Gegenwehr zu erwarten, wenn er auch noch die Restukraine zerschlage.
Der Minsker Prozess, in den Merkel große Hoffnungen setzte, hat Putin so wenig aufhalten können wie das Münchner Abkommen Hitler. Angeblich wollte Merkel mit Minsk der Ukraine Zeit kaufen, um massiv aufzurüsten. Dann ist noch schwerer zu verstehen, warum Berlin die Jahre nicht auch nutzte, die bis auf die Knochen abgemagerte Bundeswehr wieder zu einer schlagkräftigen Armee zu machen. Das wäre etwas gewesen, was Putin beeindruckt hätte.
Doch während er wohl schon anfing, Munitionsvorräte und Währungsreserven für seinen nächsten Krieg anzulegen, eröffnete eine deutsche Verteidigungsministerin Kindergärten – nicht ohne die Kasernen vorher gründlich von jeglicher Erinnerung an die Wehrmacht gesäubert zu haben. Dem Aufwand und Getöse nach, mit dem das geschah, stellten an die Wand gemalte Wehrmachtsmaschinenpistolen eine größere Gefahr dar als die russische Aufrüstung mit Hyperschallraketen. Aus Putins Sicht muss Deutschland ausgesehen haben wie ein Schoßhund, der einem Wolf Bauch und Kehle in der Hoffnung bietet, verschont zu bleiben.
Die Bundeswehr bekam nicht einmal Drohnen
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Es ist daher auch kein Wunder, dass der Kreml das Feuer seiner Propaganda auf das Land konzentrierte, das in Europa eine zentrale Rolle bei der Unterstützung der Ukraine spielt und aus Moskauer Sicht gleichzeitig die weichste Stelle in der Front des „kollektiven Westens“ darstellt. Doch selbst mit einer Tatarenmeldung wie der, Russland werde abermals von deutschen Panzern bedroht, gelingt es Putin nicht mehr, die öffentliche Meinung in Deutschland in seinem Sinne zu beeinflussen.
Das liegt nicht zuletzt am vorsichtigen Vorgehen des Bundeskanzlers. Dem kann man seit seiner Proklamation der Zeitenwende vieles vorwerfen, aber nicht, dass er zum Angriff auf Moskau blase. Dass die SPD, die bis vor einem Jahr der Bundeswehr noch nicht einmal bewaffnete Drohnen geben wollte, dem Kanzler sogar bei der Panzerwende folgt, hat Putin sich selbst zuzuschreiben. Seit seine Truppen mordend, brandschatzend und vergewaltigend durch die Ukraine ziehen, fordert in Deutschland kaum noch jemand Verständnis für die „legitimen russischen Sicherheitsinteressen“, vor denen nun sogar die Finnen und die Schweden in die NATO flüchten wollen.
Auch die jahrzehntelang parteiübergreifend als unumstößliche Wahrheit verkaufte Behauptung, in Europa gebe es nur Sicherheit mit, aber nicht gegen Russland, gilt inzwischen als so toxisch wie das eingangs erwähnte Bismarck-Zitat, das übrigens so weitergeht: „... und diese Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen lässt“.
Ein deutscher Denkfehler: Alle verachten den Krieg
Ein deutscher Denkfehler lange nach Bismarck war es, zu glauben, alle Nationen und Staaten liebten und pflegten den Frieden so innig wie die Deutschen nach zwei verlorenen Weltkriegen. Zogen andere Staaten doch in den Krieg, wusch Deutschland seine Hände in Unschuld.
Als die Serben versuchten, mit militärischer Gewalt und „ethnischer Säuberung“ auf den Ruinen Jugoslawiens ein großserbisches Reich zu errichten, weigerte Deutschland sich zunächst sogar unter Verweis auf die eigene Vergangenheit, Blauhelme zu schicken. Erst als im Kosovokrieg Massaker wie in Srebrenica drohten, erklärte die damalige rot-grüne Regierung Schröder sich bereit, an einem militärischen Einsatz gegen Belgrad teilzunehmen.
Dazu war ein Paradigmenwechsel nötig, wie es ihn zuvor selten in der deutschen Nachkriegspolitik gegeben hatte – und erst wieder bei der „Zeitenwende“ geben sollte. Der deutsche Doppelschwur „Nie wieder Krieg! Nie wieder Auschwitz!“, der bis dahin insbesondere von der deutschen Linken als Verpflichtung zum bedingungslosen Pazifismus angesehen worden ist, wurde plötzlich anders interpretiert: als Pflicht, notfalls auch mit Waffengewalt einzuschreiten, wenn ein Völkermord drohe.
Diese Umdeutung ist damals für die Grünen, die Kinder der Friedensbewegung waren, nur schwer erträglich gewesen. Außenminister Fischer verlor beim Versuch, seiner Partei zu erklären, dass nicht nur Deutsche zum Bösen befähigt seien, ein Trommelfell.
Was bei der Vergangenheitsbewältigung vergessen wurde
Dieser schmerzlichen Einsicht und den Lehren, die daraus zu ziehen waren, wich die deutsche Politik auch danach weiter aus, so schlecht es nur ging. Selbst noch als der erste deutsche Soldat in Afghanistan gefallen war, mied die deutsche Politik das Wort „Krieg“ wie der Teufel das Weihwasser. Als Verteidigungsminister Guttenberg es ein Jahr später erstmals benutzte, galt das fast schon als Heldentat.
Tabu aber blieb eine Vorstellung: dass Deutschland jemals wieder direkt oder auch nur indirekt mit einem Krieg konfrontiert werden könnte, in dem der Gegner Russland heißt. Dass die Republik sich seit einem Jahr in diesem Albtraum befindet, hat nicht sie zu verantworten. Alleinschuldiger ist der Diktator, der ein „Brudervolk“ unterjochen will, das im Zweiten Weltkrieg nicht weniger von deutscher Hand gelitten hatte als die Russen. Der von Putin verehrte Stalin hatte schon zuvor Millionen Ukrainer in den Hungertod gezwungen und sich auch am Überfall auf Polen beteiligt, was im Rahmen der deutschen Vergangenheitsbewältigung gerne vergessen worden ist.
Auf das heutige Russland aber blickt Deutschland so realistisch wie noch nie, seit Putin dort die Herrschaft übernommen hat. Doch wird es auch standfest bleiben und, wie vielfach versprochen, der Ukraine zur Seite stehen, solange diese um ihre Existenz kämpfen muss?
Der Krieg, in dem Putin auf die Erschöpfung der Ukrainer und ihrer Unterstützer setzt, könnte lange dauern. Moskau, das keine Rücksicht auf eigene Verluste nimmt und seine Soldaten ins Feuer schickt wie die deutschen und französischen Heeresleitungen in Verdun, könnte ihn jederzeit eskalieren lassen; dazu müsste der Kreml nicht auf die Ankunft der Leopard-Panzer in der Ukraine warten.
Putins wirkungsvollste Waffe aber könnte ein Angebot zu einem Waffenstillstand sein. Wer wollte nicht, dass das Töten und Zerstören in der Ukraine aufhört? Eine Putin-Note könnte in Deutschland die Stimmen, die dann endlich die Zeit zum Ausstieg aus der „Kriegslogik“ gekommen sähen, zu einem mächtigen Chor anschwellen lassen. Der Druck auf die Bundesregierung, Kiew zu Verhandlungen mit dem Aggressor zu „ermutigen“, auch durch Herunterfahren der Waffenlieferungen, würde steigen.
Denn obwohl Deutschland im Jahr eins nach der Zeitenwende einen Crashkurs im Fach sicherheitspolitischer Realismus absolvieren musste, ist die Sehnsucht nach der guten alten Zeit noch nicht erloschen, in der der Russe noch so lieb war wie Gorbatschow, das Gas billig und der Frieden eine Selbstverständlichkeit – solange ihn nur die Deutschen wahrten.
Wie viel Kreide Putin auch fräße – er bliebe ein Wolf
Aber wie viel Kreide Putin auch fräße, er bliebe doch ein Wolf. Selbst wenn er morgen tot umfiele, könnte man nicht damit rechnen, dass das von seiner Herrschaft deformierte Russland binnen Kurzem zu einer selbstkritischen Friedensmacht nach deutschem Vorbild würde. Deutschland muss auf absehbare Zeit wieder der seit der Antike bekannten Empfehlung folgen, der auch Bismarck das Wort redete: Si vis pacem para bellum. Übersetzt in die Gegenwart heißt das: Deutschland und das westliche Bündnis müssen militärisch so stark werden, dass sie Russland von weiteren Kriegszügen abschrecken und sich zur Not auch verteidigen können.
Die „blanke“ Bundeswehr in einen Zustand zu bringen, in dem sie ihren Auftrag zur Landes- und Bündnisverteidigung erfüllen kann, wird jedoch viel Geld kosten – weit mehr als das, was derzeit im regulären Haushalt und als „Sondervermögen“ zur Verfügung steht. Die Mittel dafür werden aus anderen Sektoren abgezogen werden müssen, wenn der Zeitenwende nicht länger nur auf Pump Rechnung getragen werden soll.
Sparen am Sozialstaat oder beim Vorantreiben der Energiewende, um den Kampf der Ukrainer zu unterstützen und um wieder eigene Panzerdivisionen aufzustellen? Dieser Schlacht ist die Regierung Scholz bisher ausgewichen. Doch die Ampelkoalition wird sich ihr stellen müssen, auch dazu zwingt Putins Krieg sie. Die Vorhutgefechte in Berlin haben gerade begonnen.