Saturday, December 7, 2024
Harte Vorwürfe gegen Deutsche Rentenversicherung: Freiberufler sprechen von „Skandal“
Berliner Zeitung
Harte Vorwürfe gegen Deutsche Rentenversicherung: Freiberufler sprechen von „Skandal“
Flynn Jacobs • 17 Std. • 4 Minuten Lesezeit
Freiberufler werfen der Deutschen Rentenversicherung vor, selbst auf Scheinselbständige zurückzugreifen.
Die deutsche Wirtschaftskrise geht auch an den vielen Selbständigen in Deutschland nicht spurlos vorbei. Für viele von ihnen ist sie sogar Grund genug, über eine Abkehr ins Ausland nachzudenken. Eine Umfrage des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) Köln ergab, dass sich 36 Prozent der befragten Freiberufler vorstellen könnten, aus Deutschland abzuwandern. Einige wollen ihre Selbständigkeit sogar wieder aufgeben, wie die Berliner Zeitung berichtete.
Grund dafür ist allen voran die extrem überhöhte Bürokratie in Deutschland. Insbesondere das sogenannte Statusfeststellungsverfahren (SFV) der Deutschen Rentenversicherung (DRV) ist den befragten Selbständigen ein Dorn im Auge. Bei dem Verfahren wird geprüft, ob eine Person tatsächlich eine selbständige Tätigkeit ausübt oder ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis besteht und sie somit scheinselbständig ist. In diesem Fall würden Sozialabgaben fällig. Beim Verfahren wird beispielsweise geprüft, ob ein Selbständiger von einem einzelnen Auftraggeber abhängig ist oder sich seine Arbeitszeit nicht frei einteilen kann.
Doch offenbar fallen genau diese Kriterien auf die Deutsche Rentenversicherung selbst zu, die kürzlich für eine Unterstützung ihrer IT Rahmenverträge im Volumen von 414 Millionen Euro geschlossen haben. So zumindest lautet der Vorwurf des Verbands der Gründer und Selbständigen (VGSD). Die DRV nutze genau die Methoden, die sie selbst den Selbständigen vorhält, heißt es. Was ist da los?
Der Berliner Zeitung liegt eine Mitteilung des VGSD vor, in welcher der Verband harte Vorwürfe gegen die Deutsche Rentenversicherung erhebt. Im Sommer 2024 schloss die DRV im Rahmen einer Vergabe mehrere Verträge für interne IT-Projekte im Gesamtwert von 414 Millionen Euro ab. Vertragspartner seien große IT- und Beratungsunternehmen wie IBM, Deloitte, Ernst & Young und T-Systems, so der VGSD. Das Fremdpersonal solle die DRV mit Software-Entwicklung und IT-Architektur unterstützen. In den Verträgen sieht der VGSD Anlass für große Kritik.
„Die DRV setzt auf agile Arbeitsmethoden sowie die Nutzung von hausinternen Tools, obwohl sie selbst dies als Indizien für eine abhängige Beschäftigung (Scheinselbständigkeit) wertet“, so der Vorwurf des Selbständigen-Verbands. Die Verträge der DRV würden „sehr langfristige Personalbindungsklauseln“ enthalten, die „eine höchstpersönliche Leistungserbringung erfordern, obwohl dies für eine unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung spricht“. Außerdem nutze die DRV eine vorgefertigte Tabelle für die Erfassung von Arbeitsstunden, obwohl dies für Scheinselbständigkeit spreche. „All das sind für die DRV normalerweise Kriterien für Scheinselbständigkeit und verdeckte Arbeitnehmerüberlassung. Bei ihr selbst offenbar nicht.“
In einem Beitrag des VGSD auf seiner Webseite untermauert der Verband seine Kritik an der DRV mit sämtlichen Screenshots aus den Rahmenverträgen für die IT-Unterstützung. In diesen schließt die DRV eine Arbeitnehmerüberlassung aus. Eine solche liegt vor, wenn Arbeitnehmer von einem Arbeitgeber einem Dritten gegen Entgelt für eine begrenzte Zeit überlassen werden. Experten zufolge zeigten die Verträge Merkmale einer solchen Arbeitnehmerüberlassung, so der VGSD.
Ein Bieter erklärte demnach im Bieterverfahren gegenüber der DRV, dass im Rahmen des Projekts agile Arbeitsmethoden nötig seien, und wollte wissen, ob eine Arbeitnehmerüberlassung ausgeschlossen sei. Denn in einem Schreiben der DRV betont diese, dass agile Arbeitsmethoden als Indiz für eine abhängige Beschäftigung gewertet werden. Die DRV versicherte dem Bieter, dass die ausgeschriebenen Leistungen ausschließlich im Wege einer Dienstleistungszusammenarbeit organisiert würden und eine Arbeitnehmerüberlassung ausgeschlossen sei. Aber: Die Vertragsinhalte geben laut dem VGSD Anlass zum Verdacht, dass genau diese Kriterien zutreffen und es sich somit um Scheinselbständigkeit handelt.
Doch worum genau geht es eigentlich bei der Scheinselbständigkeit? Zunächst einmal: Als selbständig zählt jeder, der selbständige Arbeiten ausführt, ohne in einem abhängigen Arbeitsverhältnis zu stehen, allerdings mit der Absicht, Gewinn zu erzielen. Selbständige können entweder als Gewerbetreibende oder als Freiberufler tätig sein.
Die Industrie- und Handelskammer (IHK) definiert den Begriff Scheinselbständigkeit folgendermaßen: „Im Allgemeinen versteht man unter dem Begriff Scheinselbständigkeit das Auftreten als Selbständiger, obwohl der Betroffene im Sinne der Sozialversicherung als abhängig beschäftigt anzusehen ist.“ Abhängig Beschäftigte würden als sozial schutzbedürftig angesehen und somit dem Schutz der Sozialversicherungen unterliegen. Daher bestehe für sie Beitragspflicht in den Sozialversicherungen (Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung).
Selbständigen werde hingegen die Absicherung dieser Risiken grundsätzlich selbst überlassen, sodass keine Beitragspflicht für sie besteht. „Stellt sich eine Selbständigkeit als Scheinselbständigkeit heraus, können Nachzahlungen fällig werden.“ Diese sind laut Angaben des VGSD sogar häufig „existenzbedrohend“, wie der Verband in einem Positionspapier kritisiert. Die Zahl der Selbständigen in Deutschland sei seit 2012 rückläufig, so der Verband auf Nachfrage. Dabei spiele das SFV eine wichtige Rolle, welches aus Sicht des VGSD dringend reformiert werden müsse. Denn: „87 Prozent der Selbständigen fühlen sich von der Regierung wenig oder gar nicht respektiert“, so der VGSD.
Auf Anfrage der Berliner Zeitung verdeutlicht der VGSD die Problematik mit der Scheinselbständigkeit und den Praktiken der DRV. „Für uns Selbständigenverbände ist das SFV berufs- und branchenübergreifend das größte wirtschaftliche Problem“, sagt der VGSD-Vorstandsvorsitzende Andreas Lutz. „Das SFV verunsichert unsere Auftraggeber und führt dazu, dass trotz akuten Fachkräftemangels Selbständige nicht mehr beauftragt werden, obwohl sie über genau die benötigten Qualifikationen verfügen.“ Dies sei einer der Hauptgründe für den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, so Lutz.
Die agile Methodik sei der weltweite Standard für Softwareentwicklung. „In Deutschland kann sie mit externen Mitarbeitern (selbständige IT-Experten, ebenso auch Angestellte von Dienstleistern) nicht mehr rechtssicher praktiziert werden, weil die DRV die agile Methodik regelmäßig als starkes Indiz für Scheinselbständigkeit wertet.“ Das führe zu hohen Nachzahlungen für die Auftraggeberunternehmen bis hin zu strafrechtlichen Konsequenzen für deren Führungspersonal. „Vor diesem Hintergrund halten wir es für einen Skandal, dass die Deutsche Rentenversicherung praktiziert.“
Eine Anfrage des Verbands habe die DRV trotz Fristablauf und Anmahnung einer Antwort bisher nicht beantwortet. Dabei bestehe ein öffentliches Interesse daran, ob hier eine öffentliche Einrichtung mit zweierlei Maß misst, so der VGSD. „Wir finden es hochproblematisch, wenn die Deutsche Rentenversicherung anderen Arbeitsweisen verbietet, die sie selbst praktiziert.“ Auf Anfrage der Berliner Zeitung schrieb die DRV, dass ihnen „aufgrund der Komplexität der Thematik“ eine Reaktion zu den Vorwürfen des VGSD „nicht ad hoc möglich“ sei. Somit bleibt offen, ob der Streit in absehbarer Zeit beigelegt werden kann.