Saturday, December 7, 2024

Exklusiv: Berlins Flüchtlingskoordinator stellt Knallhart-Forderungen bei der Migration

Berliner Zeitung Exklusiv: Berlins Flüchtlingskoordinator stellt Knallhart-Forderungen bei der Migration Anne-Kattrin Palmer • 4 Std. • 4 Minuten Lesezeit Ex-Feuerwehrchef Broemme ist Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen beim Senat. Täglich kommen neue Flüchtlinge nach Berlin, pro Woche sind es derzeit mindestens 50. Viele davon aus der Ukraine. Die Hauptstadt ächzt unter dem Ansturm: Es fehlt an Unterkünften, an Integration und oft auch am Verständnis. Viele Menschen sehen die Migration als eines der Hauptprobleme unserer Zeit an und wollen eine neue Flüchtlingspolitik. 77 Prozent gaben das jüngst im ARD-Deutschlandtrend an. Nun schlägt ein prominenter Experte Alarm: Albrecht Broemme, Berlins oberster Flüchtlingskoordinator, hat in einem Zehn-Punkte-Plan skizziert, was seiner Erfahrung nach beim Thema Migration dringend angepackt werden sollte. Er beschreibt es als „Weckruf“ mit dem „Ziel, endlich etwas zu bewegen, weil jahrelang vieles verschnarcht worden ist“. Das Papier, das er auch an die Fraktionen im Bundestag geschickt hat, liegt der Berliner Zeitung exklusiv vor. Geht es nach dem Katastrophenschützer, muss das System in Europa und somit auch in Deutschland umgekrempelt werden – angefangen bei der Aufnahme von Flüchtlingen, weniger Sozialleistungen, schärferen Verfahren und der Ausschöpfung aller rechtlichen Mittel. Die Bezahlkarte sieht er ebenfalls als wichtiges Instrument. „Wir müssen Ordnung in das System bringen – und zwar von der EU-Ebene aus.“ Dafür, so der kritische Hinweis des ehemaligen Feuerwehrchefs, müsse auch Deutschland mit der EU an einem Strang ziehen. Broemme sagt: „Deutschland verweigert regelmäßig, konsequent mit Brüssel zusammenzuarbeiten. Das muss sich dringend ändern.“ Denn die anhaltende Flüchtlingssituation werde als „Kontrollverlust“ des Staates wahrgenommen. Auch spricht er sich in seinem Plan für konsequente Kontrollen an den Außengrenzen der EU aus: „Dort brauchen wir eine konsequente Registrierung aller Geflüchteten, auch nachträglich, mit einem einheitlichen, digitalen System im gesamten europäischen Raum“, sagt er. Sprich: EU, Großbritannien, Schweiz und die Türkei. Er verweist auf Eurodac (Europäisches System für den Abgleich der Fingerabdruckdaten von Asylbewerbern) oder die vom ICMPD (International Centre for Migration Policy Development, Wien) vorgeschlagene Smart Identity Migration (SIM). Außerdem brauche es dringend mehr Personal bei der Grenzschutzagentur, dem BKA und den Visaabteilungen des Auswärtigen Amtes. Ein Schnellverfahren soll klären, „ob Schutzsuchende einen Asylantrag stellen dürfen“. „Die Staaten an den Außengrenzen müssen hierbei sowohl von der EU als auch bilateral unterstützt werden. Kontrollen an europäischen Binnengrenzen sind weniger wirksam und verursachen letztlich Flüchtlingsansammlungen in anderen Staaten.“ Broemme will auch das Dublin-Verfahren dringend reformieren, weil es gar nicht angewendet wird. Nach diesem Verfahren müssen Flüchtlinge erst einmal in dem Land bleiben, in dem sie erstmals registriert worden sind. Derzeit reisen sie aber meistens innerhalb der EU weiter, Ziel ist nicht selten Deutschland. Und: Die Leistungen sollten auf das Allernötigste reduziert werden. Stattdessen sollte es Taschengeld während der ersten sechs Monate geben. „Während des Asylprozesses mit bis zu sechs Monaten Dauer Unterbringung in Campussen mit Taschengeld“, schreibt Broemme. Derzeit liegen die Sozialleistungen in Deutschland bei etwa 460 Euro monatlich – viel zu hohe Anreize, sagt er. Der Berliner fordert stattdessen, die Sozialleistungen in den Mitgliedstaaten der EU auf ein jeweils vergleichbares, auskömmliches Niveau anzugleichen. Vor allem brauche es, heißt es in dem Plan, eine „konsequente Heranführung der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, auch unter Inkaufnahme anfänglich unzureichender Sprachkenntnisse“. Notwendig seien Bildungszentren mit der Wirtschaft, „um Hürden bei der Anerkennung von Ausbildungen und Sprachkenntnissen zu überwinden“. Wirkungsvoll kann auch die Bezahlkarte sein, wenn sie nach dem Brandenburger Modell umgesetzt wird. Der monatlich in bar abzuhebende Betrag soll auf 50 Euro für Erwachsene begrenzt werden. Dagegen hatte sich Berlins Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) lange gesträubt. Für den Flüchtlingskoordinator hat die Bezahlkarte einen guten Nebeneffekt. „Man kann sie Monat für Monat freigeben und dann müssen die Betroffenen bei einer Behörde vorsprechen.“ Ginge es nach ihm, müsse es sowieso „eine schärfere Rückführung von Geflüchteten, die kein Aufenthaltsrecht erlangen können“, geben. Broemme fordert ebenfalls die Abschiebung von Straftätern unmittelbar nach Verbüßen ihrer Haftstrafe. Duldungen sollen nach „klaren Kriterien erteilt“ werden, heißt es in dem Papier. Außerdem sollte es „ein attraktives Förderprogramm zur freiwilligen Ausreise mithilfe von über jeweils zwei Jahre verteilten finanziellen und sozialen Anreizen auch in Drittstaaten“ geben. Die illegale Migration müsse unter anderem durch Abschöpfung der Gelder von Fluchthilfe-Unternehmen bekämpft werden. Die legale Migration sowie die Arbeitsmigration solle dagegen gefördert werden. Er schlägt ein „Bundesaufnahmeprogramm mit 100.000 Personen pro Jahr“ vor. Asyl- und Fachkräfteeinwanderungsgesetz müssten zusammengeführt werden. Allein das Land Berlin brauche in den nächsten Jahren 200.000 Arbeitskräfte. Vor allem müsse die internationale Staatengemeinschaft auf die Verminderung von Fluchtursachen wie Kriegen, Hungersnöten oder Staatsbankrott hinwirken. Infrage kommen für Broemme insbesondere private Projekte mit unmittelbarer Wirkung, insbesondere zu Aufklärung und Bildung sowie für verbesserte Lebensbedingungen. Sein Fazit: „Wir hatten 2015 viele Geflüchtete, die nach Berlin kamen, 2022 dann erneut. Viele haben gesagt: Damit haben wir nicht gerechnet. Doch diese Aussage kann man heute nicht mehr machen. Wir müssen mit vielem rechnen und wir müssen vieles planen.“ Denn es werde noch weitere und stärkere Flüchtlingswellen geben, ist er sicher. „2015 war erst der Anfang, aber es könnte in den nächsten 15 Jahren noch schlimmer werden.“ Und auch in Berlin mangele es nicht an der Erkenntnis, dass Flüchtlinge aufgenommen werden müssen. Doch die Kosten seien kaum noch zu stemmen. „Im Gegenzug müssen wir bei vielen wichtigen Ausgaben einsparen.“ Nur ein Beispiel: Für Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen im Ankunftszentrum Tegel hat Berlin im vergangenen Jahr allein mehr als 298 Millionen Euro ausgegeben. Erste Reaktionen aus der Bundespolitik auf sein Weckruf-Papier hat Broemme inzwischen erhalten. Er bekam eine Rückmeldung von den Grünen. „Sie begrüßen einige meiner Vorschläge, manche sollten diskutiert werden“, berichtet er und fügt auch mit Blick auf die anstehenden Wahlen am 23. Februar 2025 hinzu: „Wer Deutschland regiert, ist für dieses Thema völlig wurscht. Wichtig ist, dass Europa an einem Strang zieht und wir endlich ins Handeln kommen.“