Tuesday, November 26, 2024
„Wenn’s hilft, soll man sagen: Merkel war’s“: Die Altkanzlerin stellt sich der Kritik
Tagesspiegel
„Wenn’s hilft, soll man sagen: Merkel war’s“: Die Altkanzlerin stellt sich der Kritik
Christopher Ziedler • 3 Std. • 4 Minuten Lesezeit
Einige frühere Wegbegleiter, wie der langjährige Unionsfraktionschef Volker Kauder, der frühere Regierungssprecher Ulrich Wilhelm oder ihre enge Beraterin Eva Christiansen hören sich ebenfalls an, wie Anne Will sie fast zwei Stunden lang zu ihrem Buch befragt.
Schon früh im Gespräch wird die Fernsehmoderatorin korrigiert, als die danach fragt, wie Angela Merkel in der heimischen Uckermark einmal betrunken in einen Baggersee gefallen sei: „Das war ein eiszeitlich geschaffener See.“
Dankbar für die „Schutzräume“ in der Familie
Lange geht es um Merkel in der DDR, weil dieser Teil wohl der persönlichste und auch überraschendste ist. Sie ist dankbar, weil ihre Eltern sie „gut vorbereitet“ hätten auf das Leben in einer Diktatur. Die „Schutzräume“ in der Familie empfand sie als „überlebenswichtig“ – auch später in der Politik, wo es Runden gab, aus denen nichts nach außen drang, die Morgenlage im Kanzleramt oder eine mit Christdemokraten: „Sonst hätte ich hätte das nicht geschafft.“
Angela Merkel erzählt, dass sie sich erstmals ausführlich mit der eigenen Kindheit und Jugend auseinandergesetzt hat. Zu wenig Zeit sei dafür gewesen, als sie nach dem Mauerfall nahtlos von der einen Position in die nächste aufstieg – außerdem wollte sie Kanzlerin aller Deutschen sein.
Erst ganz am Ende ihrer Kanzlerschaft spricht sie offener über das, was sie als Ostdeutsche bewegt, Merkel „empört“ sich am Dienstagabend immer noch über zwei erst vor wenigen Jahre erschienene Artikel, weil kurz nach der Deutschen Einheit „niemand gewagt hätte zu sagen: Ihr seid Menschen mit einer Ballastbiografie“.
Ganz heraus mit der Sprache will Merkel auch an diesem Abend nicht, wie sie emotional mit den persönlichen Angriffen der Parteienkonkurrenz und auch der CDU-Männer umgegangen ist. Sie wollte nicht „jammrig“ wirken als Frau: „Ich habe mich auf diesen Bemitleidungszustand nicht eingelassen.“
Und die ehemalige CDU-Chefin berichtet, wie in einer der „Machtmaschinen“, die Parteien sind, auch ihr Ehrgeiz und ihr Machtwille wuchs, nachdem sie noch als Generalsekretärin das „Wagnis“ eingegangen war, in einem Zeitungsartikel das Ende der Ära Helmut Kohl einzuläuten.
Sie wollte nicht nur eine „Turnerfrau“ sein, die nach der Spendenaffäre wieder abserviert wurde. So bekämpfte sie erfolgreiche jene Männer, „die damals keinen Mut hatten und jetzt rechts an mir vorbei wollten“.
Einer der damals Enttäuschten, der heutige Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz, spielt nur eine kleine Rolle. Ein Zeichen für Zweifel an seiner Eignung zur Kanzlerschaft? Für anhaltende Missgunst? Merkel widerspricht trotz politischer Differenzen: Merz habe „den unbedingten Willen zur Macht, und deshalb gönne ich es ihm“.
Nach der Wahl 2002 hatte die damalige CDU-Chefin Merz vom Posten als Unionsfraktionschef verdrängt, was das Verhältnis zu ihm schwer belastete. In der aktuellen Debatte um mögliche Zurückweisungen von Asylsuchenden an der deutschen Grenze bekräftigte Merkel ihre Differenzen zu ihm. „Für mich war es wichtig, dass wir das nicht tun. Ich halte das auch für den falschen Weg. Aber es ist nun mal so, dass er diese Meinung hat, ja.“
Ich habe mir die Flüchtlingskrise ja nicht ausgedacht.
Natürlich geht es im Deutschen Theater auch um die kritikwürdigen Punkte in Merkels Kanzlerschaft. Sie verteidigt ihre Russlandpolitik, sagt, die Minsker Friedensverhandlungen hätten der Ukraine Zeit verschafft. „Ich habe mir die Flüchtlingskrise ja nicht ausgedacht“, sagt sie und verweist auf ihre eigenen Bemühungen zur Begrenzung der illegalen Migration.
Anne Wills Eindruck, dass die ehemalige Regierungschefin nur kleinere Fehler zugebe, entgegnet sie: „Ich entblöße mich ja“. Sie meint damit das Eingeständnis, kommende Krisen wegen der Beschäftigung mit den aktuellen vernachlässigt und zu wenig erreicht zu haben.
Dass sie Deutschland zum Ende ihrer Amtszeit „in einem Tip-Top-Zustand hinterlassen hätte, das kann man nicht sagen, wirklich nicht“, sagte Merkel. Sie nannte Versäumnisse beim Klimaschutz, bei der Digitalisierung und bei der Stärkung der Bundeswehr.
Sie bittet um Verständnis dafür, dass sie zwar für alles die Verantwortung trage, viele Reformen und politische Kurswechsel aber nicht an ihr gescheitert seien. Es gebe „systemische Schwierigkeiten“.
Beim Geld und für die Bundeswehr habe die SPD blockiert, und die Grünen im Bundesrat seien ja „auch nicht als Freunde des Bürokratieabbaus bekannt“. Aber die Ex-Kanzlerin ist trocken-humorvoll bereit, als Blitzableiter zu dienen: „Wenn’s hilft, soll man sagen: Merkel war’s.“