Friday, April 25, 2025
Brief aus Istanbul: Berlin versteht nicht, was in der Türkei los ist
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Brief aus Istanbul: Berlin versteht nicht, was in der Türkei los ist
Bülent Mumay • 22 Std. •
5 Minuten Lesezeit
Die zu Hause aufgestellte Rechnung geht auf dem Markt nicht auf“, lautet ein türkisches Sprichwort. Es bedeutet, nicht alles läuft wie geplant. Die Ergebnisse der Rechnungen, die Erdoğan in seinem 1000-Zimmer-Palast anstellte, um den Trend der stetig sinkenden Wählerstimmen für sich umzukehren und sein politisches Leben zu verlängern, zeigen einmal mehr, wie treffend das Sprichwort ist. Erdoğan wollte einen Keil zwischen die Oppositionsführerin CHP und die DEM-Partei der Kurden treiben, die gegen ihn stehen. Die Niederlage, die dieses Bündnis der Regierung bei den Kommunalwahlen beigebracht hat, könnte zur Folge haben, dass Erdoğan den Präsidentenpalast nach den nächsten allgemeinen Wahlen räumen muss.
Deshalb leitete das Palastregime Friedensverhandlungen mit PKK-Chef Öcalan ein, um die Kurden aus dem Oppositionsbündnis herauszulösen und auf seine Seite zu ziehen. Wenige Wochen nach Beginn dieser Phase ließ das Regime als „tödlichen Schlag“ Ekrem Imamoğlu, den Präsidentschaftskandidaten der CHP, verhaften. So hoffte man, die kurdischen Wähler zumindest auf ein neutrales Feld zu ziehen und dafür zu sorgen, dass Imamoğlu und seine Partei wegen der Korruptionsvorwürfe Stimmen verlieren. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Veri Enstitüsü zufolge glauben aber hundert Prozent der Wähler der Kurden-Partei DEM, der Imamoğlu-Prozess sei politisch motiviert. Ihnen ist also klar, dass es Erdoğan darum geht, seinen Widersacher auszuschalten. Auch schwinden die Stimmen für die CHP nicht, im Gegenteil. Die wachsende Wut in der Gesellschaft sorgt dafür, dass die CHP in allen Umfragen vor der AKP liegt. Und die Unterstützung für Imamoğlu, der als politische Geisel im Gefängnis festgehalten wird, ist auf einem neuen Höhepunkt angelangt. In sämtlichen Umfragen, außer in denen regierungstreuer Unternehmen, liegt er mindestens zehn Punkte vor Erdoğan.
Die kurdischen Wähler lassen sich nicht bestechen
Mit politischer Bestechung gelang es Erdoğan also nicht, die kurdischen Wähler dem oppositionellen Bündnis abspenstig zu machen. Das überrascht nicht. Es ist nur selbstverständlich, dass sie nach 23 Jahren unter Erdoğans autoritärer, auf Sicherheitsinteressen setzender Politik nicht in den plötzlich in Aussicht gestellten Rosengarten stürmen. Erdoğan aber verfügte stets über eine nationalistisch-konservative Basis, auf die er sich stützen konnte. Insbesondere die zentralanatolischen Städte bildeten einen Block, der ihn und sein Bündnis wählte. Doch auch hier ging seine Rechnung nicht auf. Der Anti-Imamoğlu-Coup rührte selbst in Städten, auf die Erdoğan blind vertraute, an das Gewissen. So gab es etwa in Yozgat, einer rechtsextremen und islamistischen Hochburg, Kundgebungen zur Unterstützung Imamoğlus. Landwirte bildeten aus Protest gegen den Schlag gegen die Opposition einen Traktor-Korso. Zehn Bauern, die viele Jahre lang Erdoğan unterstützt hatten, erhielten Geldstrafen, weil sie mit ihren Traktoren die Verkehrssicherheit gefährdet hätten.
Dieser Warnschuss führte dank einer cleveren Aktion der CHP zu einer Großdemonstration gegen die Regierung. Die Partei organisierte in Yozgat, wo sie bei den letzten Wahlen nur zwei Prozent holte, eine Solidaritätskundgebung für Imamoğlu. Einige tausend Landwirte folgten dem Aufruf, nun waren nicht zehn, sondern nahezu tausend Traktoren auf den Straßen. Hinter einem Traktor mit CHP-Chef Özgür Özel am Steuer fuhren sie in langer Reihe zum Ort des Treffens. Die Rede eines Bauern beinhaltete die „intern“ bisher wohl deutlichste Kritik an Erdoğan, der seit Wochen der Opposition mit dem Spruch: „Die große Rübe steckt noch im Sack“, weitere Maßnahmen androhte. Der Bauer widersprach Erdoğan nun mit den Worten: „Man regiert das Land nicht mit Rüben und roten Beeten, das Land regiert man mit Gerechtigkeit.“
Der Coup vom 19. März ist misslungen
Es gelang Erdoğan nicht, die Opposition zu spalten, noch nicht einmal, die eigene Wählerschaft zu konsolidieren. Vielmehr gab es da noch mehr, womit er nicht gerechnet hatte. Statt seine Gegner einzuschüchtern, hat der Coup vom 19. März gegen den Kandidaten der Opposition sie ermutigt. Obwohl die Polizei auf den Straßen mit brutaler Gewalt agiert, Gerichte Haftbefehle erlassen und Vorwürfe von Misshandlungen in Haftanstalten laut werden, ist die gesellschaftliche Opposition noch gewachsen. Sie geht längst über Solidarität mit Imamoğlu hinaus. Weil die autokratischen Maßnahmen des Palastregimes so viel Energie aufgestaut haben, spiegelt sich mittlerweile jeder Schritt der Regierung auf der Straße wider. Nachdem hunderte Studenten inhaftiert worden waren, gingen Gymnasiasten auf die Straßen und Schulhöfe und protestierten gegen Erdoğans Versuch, erfahrene Lehrkräfte abzulösen und durch eigene Kader zu ersetzen. Ein Transparent der Schüler verdeutlicht Ihnen die Situation besser als ich sie in vielen Briefen beschreiben könnte: „Die Jugend hat nichts mehr, auch keine Angst.“
Und noch einen Bereich hatte Erdoğan bei seinem Streich vom 19. März nicht auf der Rechnung beziehungsweise ahnte er nicht, dass dieser Bereich dermaßen in Mitleidenschaft gezogen werden würde: die Wirtschaft. Einheimische wie ausländische Investoren wissen seit Jahren, dass in der Türkei Entscheidungen nicht nach dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit fallen, sondern durch eine Unterschrift Erdoğans. Die Verhaftung des Präsidentschaftskandidaten der Opposition hat aber gezeigt, dass ein neues Niveau erreicht ist. Demokratie gibt es schon lange nicht mehr in der Türkei, nun bewegt der Staat sich von einer autoritären Regierungsform auf Totalitarismus zu. Diese Gefahr hat die Märkte in Brand gesetzt. Heimische wie ausländische Investoren beginnen, die türkische Lira zu meiden. Um die Wechselkurse stabil zu halten, musste die Zentralbank 70 Prozent der Devisenreserven des Landes ausgeben und die aus politischen Gründen mehrere Monate in Folge gesenkten Zinsen erstmals wieder anheben. Kurz, die Inhaftierung Imamoğlus hat Erdoğan keine neuen Wähler eingebracht, sondern dazu geführt, dass das Land nur umso schlimmer verarmt und die Unterstützung für das Regime weiter einbricht.
„Das Schweigen ihrer Freunde“
Dann kam eine Initiative, die Erdoğans Blutverlust stoppen könnte, überraschenderweise aus Berlin. Wie das? Spulen wir den Film ein wenig zurück: In meinem letzten Brief hatte ich erwähnt, dass das Schweigen des Westens zu Erdoğans Schlag gegen die Opposition in der türkischen Öffentlichkeit mit Sorge und Kritik beobachtet wird. Dazu hatte ich CHP-Chef Özgür Özel zitiert: „Wenn das alles vorbei ist, werden der Türkei weniger die Stimmen ihrer Feinde in Erinnerung bleiben als vielmehr das Schweigen ihrer Freunde.“ Eine Nachricht aus Deutschland brach nun das Schweigen. Allerdings war es eine „Stimme“, wie Erdoğan sie braucht, geeignet, den antiwestlichen, nationalistischen Diskurs zu speisen. Laut einer von Regierungsseite nicht dementierten Meldung des „Handelsblatts“ legt Deutschland aufgrund der Inhaftierung Imamoğlus ein Veto gegen die Eurofighter-Lieferung an die Türkei ein.
Hatten die Entscheidungsträger in Berlin womöglich nicht auf der Rechnung, dass dieser Beschluss nicht Erdoğan, sondern die Türkei abstrafen würde? Hat womöglich keiner damit gerechnet, dass es die türkische Opposition, die ohnehin einen Schlag nach dem anderen einstecken muss, sein wird, die für diesen Beschluss, der die Verteidigungsfähigkeit der Türkei schwächt, bezahlen muss? Dachte man, das Palastregime, das Bußgelder gegen Teilnehmer eines Traktor-Korsos verhängt, die Opposition wegen des Eurofighter-Embargos ungestraft davonkommen lassen würde? Hat niemand vorausgesehen, dass die unter der Fuchtel der Regierung stehenden türkischen Medien daraus sogleich Propaganda machen würden: „Wegen Imamoğlu ist die Sicherheit unseres Landes in Gefahr“?
Der inhaftierte Ekrem Imamoğlu wurde dieser Gefahr als einer der ersten gewahr. Über seinen Anwalt gab er folgende Erklärung ab: „Die Türkei besteht nicht aus Erdoğan allein, sie ist größer als Erdoğan. Regierungen kommen und gehen. Die nationalen Interessen der Türkei sind wichtiger als Erdoğan und als Imamoğlu. Ich bitte Sie, Ihren Beschluss zurückzunehmen.“ Auch CHP-Chef Özgür Özel strengte die Diplomatie an, damit das Embargo aufgehoben wird. Wird er sich wohl je wieder über das „Schweigen der Freunde“ beklagen? Wohl kaum.