Tuesday, February 18, 2025
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben: Eine neue Weltordnung hat begonnen – und Europa droht, unter die Räder zu geraten
Tagesspiegel
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben: Eine neue Weltordnung hat begonnen – und Europa droht, unter die Räder zu geraten
Marc Saxer • 7 Std. • 5 Minuten Lesezeit
Die Rede von J.D. Vance in München könnte in die Geschichtsbücher eingehen als das Ende der liberalen Weltordnung. Will Europa nicht zum Spielball werden, muss es seinen inneren Umbau vorantreiben.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz prallten zwei radikal unterschiedliche Ordnungsvorstellungen aufeinander. Dieser Moment könnte in die Geschichtsbücher eingehen als das endgültige Ende der liberalen Weltordnung. Ein Punkt, an dem die Erosion der liberalen Hegemonie auch innerhalb der westlichen Demokratien nicht länger zu übersehen war.
Im Kern hatte J.D. Vance, der amerikanische Vize-Präsident, zwei Botschaften für die Europäer. Erstens, die USA unterziehen ihr Regierungssystem einem radikalen Umbau – und erwarten dasselbe von ihren europäischen Verbündeten. Zweitens, bleibt dieser Wandel in Europa aus, bricht das gemeinsame Wertefundament der transatlantischen Partnerschaft weg. Und mit ihm die amerikanische Sicherheitsgarantie.
Die Botschaft des Amerikaners war epochal
Die europäischen Reaktionen waren aufschlussreich. Erstaunlich viele Kommentatoren erfassten nicht, wie epochal die Botschaft des Amerikaners war, und werteten sie als unverschämte Einmischung in europäische Angelegenheiten.
Klügere Beobachter erkannten hingegen, dass es sich nicht um ein Gespräch unter gleichberechtigten Partnern handelte, sondern um die ultimative Drohung eines Schutzpatrons: Entweder Europa folgt dem vorgegebenen Kurs, oder es steht künftig schutzlos russischen Aggressionen gegenüber.
Der geopolitischen Lesart ist wenig hinzuzufügen. Tatsächlich stellen die USA das transatlantische Bündnis, das mehr als 80 Jahre eine zentrale Säule der (west-)europäischen Sicherheitsarchitektur war, offen infrage.
Selbst wenn dieses Bündnis erneuert wird – und die Zweifel daran sind in sich schon genug, um die Abschreckungsfähigkeit gegenüber äußeren Gegnern zu erschüttern – bleibt der Preis hoch: Die Europäer müssen künftig die Hauptlast der Sicherung ihres Kontinents selbst tragen. Amerika wird sich vollständig auf den Hegemoniekonflikt mit China konzentrieren.
Die Europäer müssen künftig die Hauptlast der Sicherung ihres Kontinents selbst tragen.
Marc Saxer leitet das Projekt Geopolitik und Internationale Ordnung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Asien.
Auf globaler Ebene sind die USA nicht länger bereit, das Geflecht multilateraler Institutionen, das sie selbst einst als regelbasierte, liberale Weltordnung bezeichneten, als Weltpolizist zu garantieren. Damit ist nicht nur die Blockade des UN-Systems vorprogrammiert, sondern auch die Offenheit der Weltwirtschaft infrage gestellt.
Der Hegemon erklärt also die von ihm geschaffene Ordnung für obsolet. Für die Europäer, deren Miniaturarmeen bewusst mit der amerikanischen Militärmaschine verflochten sind und deren Exportökonomien von globalen Lieferketten abhängen, verändern sich dadurch grundlegend die Bedingungen für Sicherheit und Wohlstand.
Was jedoch noch unzureichend beleuchtet wird, ist der fundamentale Zusammenprall zweier radikal unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen. Oder anders gesagt: Während viele erst allmählich begreifen, dass die liberale Ordnung an ihr Ende gelangt, bleibt unklar, durch was sie eigentlich ersetzt werden soll.
Das Vokabular der neuen Ordnung
Es ist daher kein Zufall, dass es vielen Zuhörern schwerfällt, zu entschlüsseln, was die US-Regierung tatsächlich meint. Denn das Vokabular dieser neuen Ordnungsvorstellung ist uns noch fremd.
So wurden hierzulande die Vorstöße des amerikanischen Präsidenten, Grönland, Panama und Kanada zu annektieren, als bizarre Provokationen abgetan. Dahinter könnte jedoch die Wiederbelebung der Monroe-Doktrin stehen – also der Rückzug der amerikanischen Großmacht in die von ihr dominierte westliche Hemisphäre.
In Kombination mit der Bereitschaft, die Ukraine faktisch Russland zu überlassen, zeichnet sich ein Denken in Einflusssphären ab.
Doch auch Europa hat im 19. Jahrhundert seine multipolare Ordnung durch Einflusszonen und Absprachen stabilisiert – durchaus mit Erfolg.
Marc Saxer leitet das Projekt Geopolitik und Internationale Ordnung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Asien.
Denkbar sogar, dass die USA mit ihren Großmachtkonkurrenten China und Russland eine Übereinkunft treffen, sich nicht in die Einflusssphären der anderen einzumischen. Das Schicksal Taiwans wäre damit ebenso besiegelt wie das des Kaukasus.
Die Europäer rufen empört „Verrat“. Doch auch Europa hat im 19. Jahrhundert seine multipolare Ordnung durch Einflusszonen und Absprachen stabilisiert – durchaus mit Erfolg. Der deutsche Versuch, mit Gewalt nach der Hegemonie zu greifen, führte hingegen in zwei Weltkriege.
Kein Weg zurück in eine unipolare Welt
Heute glauben die amerikanischen Neokonservativen, einen Krieg gegen die nuklear bewaffnete Supermacht China gewinnen zu können. Der Entzug des Personenschutzes für deren wichtigste Vertreter signalisiert, dass sie nun politisch im Abseits stehen.
Wie ihre Vorgängerin scheint die Trump-Regierung anzuerkennen, dass ein militärischer Sieg über China nicht realistisch ist – und dass es keinen Weg zurück in die unipolare Welt gibt.
Der eigentliche Epochenbruch hat sich in den globalen Kräfteverhältnissen vollzogen – die Amerikaner haben dies nur schneller akzeptiert als die Europäer.
Mit Blick auf die neuen Realitäten dürfte Europa sein trotziges „Jetzt erst recht“ zur Ukraine schon bald aufgeben. Will Europa nicht zum Spielball der Großmächte werden, muss es entschlossen seinen inneren Umbau vorantreiben. Die Fähigkeit zur militärischen und politischen Selbstbehauptung hat aber einen hohen Preis.
Damit der Umbau nicht in Verteilungskämpfen stecken bleibt, müssen diese immensen Kosten gerecht verteilt werden. Mit anderen Worten, der Gesellschaftsvertrags muss neu verhandelt werden.
Entsprechend radikal ist der innere Umbau des amerikanischen Regierungssystems, bei dem Trump mit dem Musk’schen Vorschlaghammer ansetzt. Hierzulande wird dies oft als Rache am Deep State oder gar als Schritt in Richtung eines autoritären Regimes, vielleicht sogar einer Monarchie, gedeutet.
Tatsächlich gibt es in Trumps Regierung Stimmen, die bezweifeln, dass die schwerfälligen liberalen Demokratien des Westens mit dem chinesischen Staatskapitalismus mithalten können, und sich nach einer neuen Form technokratischen Durchregierens sehnen. Trumps Politik per Exekutiv-Order und das Infragestellen von Rechtsstaat und Gewaltenteilung entspringt diesem Geist. Das ist brandgefährlich.
Bürokratien sind mit der globalisierten Welt überfordert
Viele Kritiker übersehen, dass sich Governance-Systeme im Laufe der Jahrhunderte stets an neue Herausforderungen und technologische Möglichkeiten angepasst haben – man denke an die Französische Revolution oder die preußischen Reformen.
Unbestreitbar ist auch, dass die im vorletzten Jahrhundert entstandenen Bürokratien mit den Anforderungen einer globalisierten, vernetzten und beschleunigten Welt überfordert sind – insbesondere im Umgang mit globalen Strömen wie bei Pandemien, Migration, Daten oder Finanzkrisen.
Die Tech-Bros um Elon Musk wollen die behäbigen Bürokratien mithilfe Künstlicher Intelligenz effizienter, kompetenter und reaktionsfähiger machen. Kurz gesagt: Im Systemwettbewerb mit China setzen die USA auf ein Update ihres Operating Systems.
Das Ziel: eine hocheffiziente Technokratie, die der Kontrolle des demokratischen Souveräns entzogen ist und sich voll darauf konzentriert, die Infrastruktur des digitalen Kapitalismus bereitzustellen.
Marc Saxer leitet das Projekt Geopolitik und Internationale Ordnung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Asien.
Yanis Varoufakis, griechischer Wirtschaftswissenschaftler und Politiker, warnt zu Recht, dass es sich dabei keineswegs um unschuldige Bürgerdienste handelt. Dahinter steckt die Vision der Oligarchen, den Techno-Feudalismus nun auch in die Institutionen des amerikanischen Staates einzubetten.
Das Ziel: eine hocheffiziente Technokratie, die der Kontrolle des demokratischen Souveräns entzogen ist und sich voll darauf konzentriert, die Infrastruktur des digitalen Kapitalismus bereitzustellen.
Dieser Vision hat Steve Bannon, der intellektuelle Kopf der Maga-Bewegung, öffentlich den Krieg erklärt. Solange es darum geht, das Alte zu zerschlagen, hält die seltsame Allianz zwischen weißen Arbeitern und Tech-Oligarchen.
Doch darüber hinaus ist von der geostrategischen Ausrichtung bis zur inneren Verteilungswirkung des amerikanischen Imperiums alles umstritten. Welche Ordnung sich letztlich durchsetzt, wird sich also in gesellschaftlichen Machtkämpfen entscheiden.
Wir müssen begreifen, was auf dem Spiel steht – und unser rasant schwindendes Gewicht nutzen, um unsere Interessen zu wahren.
Marc Saxer leitet das Projekt Geopolitik und Internationale Ordnung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Asien.
Wir Europäer müssen dringend lernen, zu entschlüsseln, worum es in diesen Machtkämpfen tatsächlich geht. Denn durch die Brille des Liberalismus – bis zum aktuellen Umbruch das gemeinsame Wertefundament des Westens – ergibt vieles davon keinen Sinn.
Wir müssen begreifen, was auf dem Spiel steht – und unser rasant schwindendes Gewicht nutzen, um unsere Interessen zu wahren. Denn eines ist klar: Wir sind längst in die nächste Epoche der Weltgeschichte eingetreten und drohen unter die Räder zu geraten, wenn wir nicht schnell verstehen, wie sie funktioniert. Oder, um es mit Gorbatschow zu sagen: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.