Sunday, February 23, 2025

„Der US-Präsident und ein Kriegsverbrecher verhandeln miteinander. Es ist unglaublich“

WELT „Der US-Präsident und ein Kriegsverbrecher verhandeln miteinander. Es ist unglaublich“ Stefan Schocher • 4 Std. • 6 Minuten Lesezeit Den ukrainischen Historiker Anatolii Podolski erinnert es an das Jahr 1938, dass erneut eine Aufteilung der Ukraine im Raum steht. Die Wurzeln des Hasses sieht er bei Stalin und im NS-Regime. Für die Zukunft sieht der Wissenschaftler jüdischer Abstammung nur eine Option. Anatolii Podolski ist Direktor des Ukrainischen Zentrums für Holocaust-Studien in Kiew. Er veröffentlichte mehr als 90 Artikel in internationalen Fachzeitschriften über die Geschichte der Juden und des Holocausts in der Ukraine sowie auch zur Vermittlung des Holocausts. WELT: Herr Podolski, wenn auf internationaler Ebene und ohne Einbeziehung Kiews über die Aufteilung der Ukraine debattiert wird – welche Assoziationen weckt das bei Ihnen? Anatolii Podolski: Man kann sich gut vorstellen, dass ukrainische Intellektuelle und Menschen im Ausland, ukrainische Historiker, Politologen und Kulturschaffende all dies zum Beispiel mit dem Münchner Abkommen von 1938 vergleichen, mit dem Schicksal der Tschechoslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg. Im Zweiten Weltkrieg sprach man von der Achse des Bösen – Berlin, Rom, Tokio –, von Hitler, Mussolini und Japan, von Nazi-Deutschland, dem faschistischen Italien und dem imperialistischen Japan. Jetzt sprechen wir über Moskau, Teheran, Pjöngjang und Peking. Und jetzt diskutieren wir über das Gleichgewicht zwischen Demokratie und autoritärer Diktatur – und über die Wahl des derzeitigen US-Präsidenten. Er unterstützt einen Verbrecher, einen Kriegsverbrecher. WELT: Der Vergleich mit den Ereignissen, die zum Zweiten Weltkrieg führten, fällt oft. Aber gibt es nicht auch viele Unterschiede? Podolski: Ich denke, Putin und sein Regime haben viel mehr Rückhalt in der Gesellschaft. In Deutschland, in Österreich gab es in den späten 1930er-Jahren und während des Zweiten Weltkriegs Widerstand gegen das Nazi-Regime. In Russland gibt es keinen Widerstand. Daher liegt dieser Krieg nicht nur in der Verantwortung eines Diktators, sondern auch in der Verantwortung der russischen Gesellschaft. Sie unterstützen Putin, vielleicht hassen sie ihn, vielleicht haben sie Angst vor ihm – aber sie haben in den vergangenen zehn Jahren nichts getan. Und was ist mit uns? Tschernihiw, Jahidne, Charkiw, Isjum, Butscha sind heute Symbole von Massenmord an ukrainischen Bürgern. Und es gibt Parallelen. Die Tschechoslowakei war 1938 ein demokratisches Land. Nazi-Deutschland hat behauptet, es müsse dort die deutschsprachige Bevölkerung schützen. Genau so argumentiert das Putin-Regime heute. Das ist eine komplette Lüge. WELT: Die Geschichte Nazi-Deutschlands ist die eine Seite. Die andere ist die ukrainisch-russische Geschichte, die reich an Parallelen ist und sich über Jahrhunderte wiederholt hat. Podolski: Das stalinistische Regime hat die Ukrainer gehasst – die ukrainische Unabhängigkeits- und Nationalbewegung, ukrainische Literatur, ukrainische Kultur. Zugleich hat Stalin die jüdische Kultur gehasst. Anti-Ukrainismus, Antisemitismus und Ukrainophobie sind ein und dieselbe Sache. Ein Beispiel: der Bezirk Isjum (dort wurden nach der Befreiung durch ukrainische Truppen im September 2022 Massengräber entdeckt; Anm.d.Red.). In den Jahren 1932/33 beging die sowjetische Geheimpolizei dort unvorstellbare Verbrechen an der Zivilbevölkerung – den Holodomor – und ließ Millionen Menschen in der gesamten Ukraine gezielt verhungern. Damals starben Ukrainer an dem vom stalinistischen Regime organisiertem Hunger, und heute sterben in genau diesen Dörfern ukrainische Bürger durch russischen Beschuss, Raketen und Bomben. Es gibt diesen tiefen Hass auf die ukrainische Kultur, den Putin von Stalin geerbt hat. Es ist wirklich Hass. WELT: Was denken Sie, wenn jetzt über „Frieden“ diskutiert wird? Podolski: Wenn wir die Ukraine jetzt nicht verteidigen, wenn wir ein Abkommen schließen und Teile ukrainischen Gebiets dem russischen Regime zufallen, wird es eine Pause geben – vielleicht sechs Monate, ein Jahr, zwei Jahre. Aber die Russische Föderation wird weiterhin Krieg führen. Putin hat in den vergangenen zehn oder 15 Jahren immer die Vergangenheit und die Geschichte instrumentalisiert und manipuliert, um gegen die Ukraine und gegen Europa zu arbeiten. Der Zweite Weltkrieg endete vor bald 80 Jahren. Und wo stehen wir jetzt? Der US-Präsident und ein Kriegsverbrecher verhandeln miteinander. Es ist unglaublich. Es ist schrecklich. WELT: Zum Teil wiederholt sich diese Geschichte auch in diesem Kreislauf an Versprechen Moskaus, die nicht eingehalten werden, Unterdrückung, Aufstand, Krieg. Wie sehr wiederholt sich das jetzt? Podolski: Die Russische Föderation hat das Erbe des Russischen Reiches, der Sowjetunion und vor allem das Erbe des KGB (sowjetischer Geheimdienst) angetreten. Es war der KGB, der die Macht in Russland an sich gerissen hat. Sie haben Recht: Die ukrainisch-russische Geschichte ist eine Geschichte der Wiederholungen. Gerade in den vergangenen 100 Jahren: der Erste Weltkrieg, die Ukrainische Volksrepublik, der Kampf um die Unabhängigkeit. Natürlich gehörte ein Teil der Ukrainer – wie auch der Juden, Polen, Georgier, Letten – zum bolschewistischen Regime. Aber auch die Ukraine hat versucht, unabhängig zu sein, wie Polen, Finnland und andere, und wir wurden ausgehungert, unsere Schriftsteller, Dissidenten und Intellektuellen wurden getötet. Das geschah mehrere Male. Und das ist nur das 20. Jahrhundert. Das Gleiche gilt für das 19., das 18. und das 17. Jahrhundert. Leider muss jede Generation in der Ukraine ihren eigenen Preis für die Freiheit zahlen. Und in der Ukraine ist es für jede Generation ein sehr hoher Preis. WELT: In den Augen Russlands sind die Ukrainer also sozusagen die Separatisten? Podolski: Ja. Russland sagt, dass die Ukraine allein durch ihre Existenz eine Bedrohung für die russischsprachige Welt ist. Das Putin-Regime will die unabhängige Ukraine als europäischen Staat zerstören. Es gab diesen Vorschlag aus Russland: Bitte, Ungarn, nehmt Transkarpatien, Rumänien, nehmt die nördliche Bukowina, Polen, nehmt Ostgalizien und Wolhynien, die Russen werden die Zentral-, Süd- und Ostukraine besetzen, und Kiew wird zerstört werden. Das ist ihr Traum. Sie hassen die Ukraine allein schon dafür, dass sie ein unabhängiger, souveräner europäischer Staat ist. WELT: Dabei ist auch die ukrainisch-polnische Geschichte voller Gewalt und diffuser Grenzen. Aber Polen stellt keine Gebietsansprüche, sondern ist Partner der Ukraine. Wieso fällt es Russland so schwer, die Ukraine einfach als Nachbarn zu akzeptieren? Podolski: Polen hat Waffen geliefert, ohne Polen wären wir jetzt unter russischer Okkupation. Zwei Millionen Ukrainer leben heute in Polen. Die Ukraine und Polen sind echte Nachbarn und Freunde, trotz einer sehr schwierigen Vergangenheit. Wir sind Länder, Völker und Kulturen, die im letzten Jahrhundert sehr unter Nationalsozialismus und Kommunismus gelitten haben. WELT: Aber warum funktioniert das nicht mit Russland? Podolski: Wissen Sie, wie die Russen die Ukrainer nennen? All die Schimpfwörter? Die sowjetische Erziehung war immer auf das „große russische Volk“ ausgerichtet. Das ist die Erinnerungskultur Russlands. Das ist kein Krieg der Eliten um Putin. Das ist ein Krieg der Russen. Einer der schrecklichen russischen Propagandisten, Pavel Gubarev, hat vor drei Jahren gesagt, es gebe kein ukrainisches Volk, es gebe nur ein großes russisches Volk, und wer dem nicht zustimme, den werde man töten – und wenn man fünf Millionen Menschen töten müssen, werde man fünf Millionen töten, wenn man zehn Millionen töten müsse, werde man zehn Millionen töten. Für die Russen sind die Ukrainer weder ein Volk noch ein Staat. Diese Denkweise wurde in der unabhängigen Ukraine zerstört, und auch in Polen gibt es sie nicht mehr. Aber in Russland existiert sie noch. Für Russen ist alles Ukrainische mit Bandera, mit Nationalismus und Feinden gleichgesetzt, die getötet werden müssen. WELT: Dabei hat Stepan Bandera ja hauptsächlich gegen Polen gekämpft... Podolski: Das ist richtig. Und die ukrainische Nationalbewegung jener Zeit bestand nicht nur aus Bandera. Er repräsentierte nur das rechtsextreme Lager. Natürlich gibt es viele schreckliche, komplexe und schwierige Probleme zwischen Polen und der Ukraine. Und nicht alle in der ukrainischen Nationalbewegung waren Helden – einige waren es, andere waren Kriminelle. Das Gleiche gilt für die Polnische Heimatarmee. Die Menschen in der Ukraine und in Polen verstehen all das. Wir verstehen einander. WELT: Wie kann unter diesen Umständen eine nachhaltige Lösung für die Ukraine aussehen? Podolski: Wir haben hier über die Geschichte, die Vergangenheit und die komplexen Beziehungen in der ukrainisch-russischen Geschichte diskutiert, über die Wurzeln des russischen Hasses. Herr Trump weiß nichts darüber. Wir müssen unser Territorium verteidigen, wir können nicht noch einmal verlieren. Wir zahlen einen sehr hohen Preis für unsere Freiheit und unser Gedächtnis. Wir brauchen ein sicheres Leben für die Menschen. Ich bin jüdischer Abstammung, ich bin Ukrainer, Bürger der Ukraine, und die Ukraine ist meine Heimat. Meine Eltern, mein Großvater, mein Urgroßvater, Generationen meiner Verwandten haben hier gelebt. Ich liebe dieses Land, ich werde nicht in ein Konzentrationslager zurückkehren – weder in die Sowjetunion, noch in die Russische Föderation, noch in das Russische Reich.