Saturday, December 7, 2024

Bitte mehr Fakten in der Migration

Frankfurter Allgemeine Zeitung Bitte mehr Fakten in der Migration Alexander Wulfers • 3 Std. • 3 Minuten Lesezeit Geflüchtete warten in der Erstaufnahmeeinrichtung in Baden-Württemberg auf die Ausgabe von Bezahlkarten. Es war noch im alten Jahr 2023, als sich die Debatte um Flucht und Migration in Deutschland mal wieder zuspitzte. Die AfD war in den Umfragen auf ein Allzeithoch geklettert, die Kommunen fühlten sich überlastet, und die Politiker der anderen Parteien bekamen es mit der Angst zu tun. Auf der Suche nach sogenannten Pull-Effekten, denen nachgesagt wird, Zuwan­derer nach Deutschland zu ziehen, fand sich ein neues Thema: Asyl­bewerber, die in Deutschland Geld vom Staat beziehen, schickten angeblich vieles davon zu ihren Verwandten in die Heimat. Ein Fass ohne Boden für den deutschen Steuerzahler, und ein Grund, warum so viele nach Deutschland wollen statt in andere Länder? Plötzlich herrschte unter Poli­tikern große Einigkeit, dass man sich dieses Themas annehmen müsse. Die Bezahlkarte war das Ergebnis. Dann ging alles ganz schnell. Im Mai trat die entsprechende Gesetzesänderung in Kraft, beschlossen vom Bund und allen 16 Landes­regierungen. Asylbewerber erhalten in Zukunft kein Geld mehr ausgezahlt, sondern sie bekommen eine Debitkarte mit Guthaben. Maximal 50 Euro Bargeld sollen sie im Monat noch abheben können. Nach ersten Pilotprojekten wird die Karte nun nach und nach flächendeckend eingeführt, in Hessen gibt es sie seit der vergangenen Woche. Für Auslandsüberweisungen fehlen Daten Dumm nur, dass sich das Phänomen der Auslandsüberweisungen im Nachhinein als Luftnummer entpuppt. Die Wissenschaftler des sozioökonomischen Panels, das die Haushalte in Deutschland nach ih­rem wirtschaftlichen Verhalten befragt, haben sich angesehen, wie viele Menschen regelmäßig Geld ins Ausland überweisen. Unter Geflüchteten waren es im Jahr 2021 nur sieben Prozent, die das überhaupt taten – Tendenz fallend, und das lange vor der Einführung der Bezahlkarte. Genaue Summen haben die Forscher nicht erhoben, viel dürfte bei 460 Euro Regelsatz im Monat aber kaum übrig bleiben. Da hatte sich also eine Erzählung über Flüchtlinge in die Welt gesetzt, und das gesamte demokratische Spektrum lief ihr hinterher, einschließlich der Grünen, die eigentlich dagegen waren, aber als Teil der Ampelkoalition die Änderungen mit durchwinkten. Als Resultat werden nun die Freiheit und Selbstbestimmung Hunderttausender Menschen in Deutschland stark eingeschränkt, die sich nichts zu schulden haben kommen lassen. Und alles wegen ei­nes Phänomens, dass es in der Rea­lität kaum gibt. Das hätte man auch schon früher ahnen können, zumal viele Sozialwissenschaftler schon damals davor warnten, dass die Sozialleistungen nur sehr begrenzt als Erklärung für Flüchtlingsströme taugen. Nun darf einen bei Bundeskanzler Olaf Scholz nicht mehr wundern, dass er auf wissenschaftliche Erkenntnisse wenig gibt. In der vergangenen Woche wurde er in einem Podcast gefragt, warum er in der Migrationspolitik AfD-Parolen übernehme. Politikwissenschaftler sind sich weitestgehend einig, dass man rechten Populismus am besten bekämpft, indem man andere Themen setzt, nicht indem man sich die Aussagen der Populisten selbst aneignet. Bundeskanzler widerspricht Scholz widersprach „diesen Politikwissenschaftlern“ rundheraus. Sie würden „an den eigentlichen Fragestellungen vorbeireden“. Es ist nicht das erste Mal, dass der Kanzler auf wissenschaftliche Erkenntnisse wenig gibt. Als Ökonomen 2022 darlegten, dass ein Verzicht auf rus­sisches Gas für die deutsche Wirtschaft machbar wäre, wollte er nichts davon wissen, „irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen“. Die Ökonomen behielten am Ende recht. Der Finanzminister Scholz war mal jemand, der Ökonomen ins Ministerium holte und den Austausch mit der Wissenschaft suchte. Man kann nur hoffen, dass diese Offenheit für Wissenschaft im kommenden Jahr auch im Kanzleramt Einzug hält, wie auch immer dann der Kanzler heißt. Es täte nicht nur der Migrationspolitik gut. Die Studie zu den Auslandsüberweisungen hat sich übrigens auch gezeigt, unter welchen Bedingungen Flüchtlinge dazu tendieren, we­niger Geld ins Ausland zu überweisen. Einer der wichtigsten Faktoren: eine langfristige Bleibeper­spektive.