Wednesday, November 20, 2024
„Krönungsmesse“ am Freitag?: Die Anzeichen für eine erneute Kandidatur von Scholz verdichten sich
Tagesspiegel
„Krönungsmesse“ am Freitag?: Die Anzeichen für eine erneute Kandidatur von Scholz verdichten sich
Daniel Friedrich Sturm • 1 Std. • 4 Minuten Lesezeit
Wer führt die SPD in den Wahlkampf, Olaf Scholz oder Boris Pistorius? Kurz vor der Entscheidung deutet vieles auf den Bundeskanzler hin.
Die Anzeichen für eine Entscheidung der SPD-Spitze für Olaf Scholz als Kanzlerkandidat noch vor dem Wochenende verdichten sich. Es sei „sehr, sehr sicher, dass Olaf Scholz Kanzlerkandidat wird“, heißt es in der SPD. Mit einer Nominierung durch die Parteiführung sei noch in dieser Woche zu rechnen. Von einer „Krönungsmesse für Scholz“ bereits an diesem Freitag ist bei den Sozialdemokraten die Rede.
Nach Tagesspiegel-Informationen aus SPD-Kreisen steht Verteidigungsminister Boris Pistorius offenbar nicht mehr zur Verfügung. Pistorius wolle die SPD nicht um jeden Preis als Kanzlerkandidat in die Bundestagswahl führen. Der Verteidigungsminister habe registriert, dass Partei- und Fraktionsführung ihn allenfalls halbherzig mittragen würden. „Er wird sich nicht verbrennen lassen. Warum sollte er das auch tun?“, heißt es über Pistorius in der SPD.
Niemand aus der Partei- und Fraktionsführung der SPD hat sich bisher öffentlich für eine Kandidatur von Deutschlands beliebtesten Politiker ausgesprochen. Vielmehr machen sich die SPD-Co-Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil sowie Fraktionschef Rolf Mützenich für eine abermalige Kandidatur von Scholz stark. Mützenich, 65, der Pistorius’ Warnungen vor dem Sicherheitsrisiko Russland für übertrieben hält, gab jüngst bekannt, erneut für den Bundestag zu kandidieren.
Kanzler Scholz selbst hat ebenso wenig Sympathien für eine Kandidatur von Pistorius erkennen lassen. Er absolvierte eine dreitägige Reise zum G-20-Gipfel in Brasilien, während in Deutschland die Debatte um die Kanzlerkandidatur tobte. Zum Ende des Aufenthaltes in Rio de Janeiro, am Dienstagabend, gab Scholz mehrere Interviews, in denen er sich optimistisch zu seinen eigenen Ambitionen zeigte.
Scholz misstraut politisch profilierten und eigenständigen Köpfen wie Pistorius. Dass der Verteidigungsminister, anders als er, kommunikativ geschickt agiert und in der Bevölkerung beliebt ist, kann ihm nicht gefallen.
Es wird jetzt eine zügige Entscheidung geben.
SPD-Chef Lars Klingbeil
Klingbeil kündigte am Mittwoch eine baldige Entscheidung in der SPD in der Frage der Kanzlerkandidatur an, ließ aber einen genauen Zeitpunkt weiter offen. „Es wird jetzt eine zügige Entscheidung geben“, sagte Klingbeil im Podcast mit „Bild“-Journalist Paul Ronzheimer. Esken hingegen hatte am Montag in der ARD gesagt, ein vorzeitiger Beschluss des Parteivorstands zur K-Frage sei „nicht unbedingt notwendig“, weil die Sache im Sinne einer Kandidatur von Scholz „so klar ist“.
Beliebtester und unbeliebtester Politiker
Pistorius, Verteidigungsminister seit 2023, führt die Liste der beliebtesten Politiker schon lange mit Abstand an. Scholz, Kanzler seit 2021, ist extrem unbeliebt, tauchte im jüngsten Politiker-Ranking von Insa für die „Bild“-Zeitung auf dem 20. und letzten Platz auf, noch hinter AfD-Chef Tino Chrupalla.
In der SPD könnte die Entscheidung für Scholz schon an diesem Donnerstag oder Freitag fallen, heißt es in Parteikreisen. Als möglich gelten eine Empfehlung des Präsidiums oder der Parteichefs für den SPD-Bundesvorstand, der am Montag tagen wird.
Unmut über Esken und Klingbeil
Der parteiinterne Druck, schnell eine Entscheidung herbeizuführen, ist enorm. Bei den Sozialdemokraten wächst der Unmut über die teils öffentlich geführte Debatte über die Kanzlerkandidatur und die Unklarheit, wer die Partei in die Wahl in gut 90 Tagen führen wird. Die Kritik bezieht sich vor allem auf die SPD-Vorsitzenden Esken und Klingbeil.
Die lange Debatte beschädige alle Akteure, wird in teilen der SPD kritisiert. Esken und Klingbeil zeigten keine Führung, sie hätten keinen Plan. Damit bescherten sie der Partei eine quälende Phase, beklagen Sozialdemokraten. Jeder Tag, mit der die Kanzlerkandidatur ungeklärt sei, schade der SPD.
Über Klingbeil heißt es in der SPD, er fühle sich in seinen politischen Ambitionen von Pistorius eher gestört. Pistorius stammt, wie Klingbeil, aus Niedersachse.
Esken, die noch 2019 angezweifelt hatte, ob Scholz ein wahrer Sozialdemokrat sei, gilt inzwischen als stärkste Unterstützerin des Kanzlers. Sie hatte sich diese Woche, neben Altkanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder sowie der SPD Sachsen-Anhalt, für eine Kandidatur von Scholz ausgesprochen. Auch SPD-Vize Serpil Midyatli, sonst politische weitgehend abwesend, stellte sich öffentlich hinter Scholz. NRW-SPD-Chef Achim Post schweigt bislang.
Müntefering bestreitet Scholz’ „Vorrecht“ auf die Kanzlerkandidatur
In den letzten Tagen und Wochen waren die Rufe nach einer Kanzlerkandidatur von Pistorius lauter geworden. SPD-Bundestagsabgeordnete wie Joe Weingarten oder Johannes Arlt plädierten öffentlich unter Hinweis auf die Popularität von Pistorius in der Bevölkerung für dessen Nominierung. Im Sommer hatte sich schon Münchens OB Dieter Reiter entsprechend geäußert. Am Sonntag sprach Ex-SPD-Chef Franz Müntefering Scholz ein „Vorrecht“ auf die Kanzlerkandidatur ab und brachte „Gegenkandidaturen“ ins Spiel.
Der Druck auf Scholz erreichte seinen Höhepunkt, als am Tag nach Münteferings Intervention die beiden Vorsitzenden der SPD-Landesgruppe aus NRW, die Abgeordneten Wiebke Esdar und Dirk Wiese, öffentlich erklärten, es gebe in den Wahlkreisen „viel Zuspruch für Boris Pistorius“.
Pistorius selbst hat sich nie, weder intern noch öffentlich, um die SPD-Kanzlerkandidatur beworben. Er verwies vielmehr stets darauf, die SPD habe mit Scholz einen Kandidaten. Pistorius habe nie so etwas wie einen „Putsch“ gegen Scholz geplant oder auch nur schlecht über den Kanzler geredet, sagen selbst Gegner des Verteidigungsministers. Scholz wiederum sagte am Dienstag bei Welt-TV, er sei sich der Loyalität von Pistorius „sehr sicher“. Pistorius mache einen guten Job, die Zusammenarbeit mit ihm sei „sehr, sehr gut“, sagte der Kanzler.
Scholz hat für Freitagmorgen einen Auftritt bei einem Kongress von SPD-Kommunalpolitikern ankündigen lassen. In den letzten Monaten waren es vor allem Kommunalpolitiker in der SPD, die ihrer Partei dazu rieten, Pistorius zu nominieren, um bei der Bundestagswahl besser abzuschneiden als mit einem Kandidaten Scholz.