Monday, November 7, 2022
Kiews Wiederaufbaupläne „fragwürdig und unrealistisch“
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Kiews Wiederaufbaupläne „fragwürdig und unrealistisch“
Andreas Mihm - Gestern um 17:24
Die im März 2022 von ukrainischen Pionieren gesprengte Brücke über den Fluss Irpin im Kiewer Vorort Irpin am 07.06.2022.
Jeden Tag bombardiert Russlands Militär die Ukraine und versucht, die Energieversorgung des Landes auszuschalten. Der Westen verspricht deshalb neben Militär- und Finanzhilfe für den aktuellen Bedarf auch eine kurzfristige „Winterhilfe“ mit Decken, Zelten, Generatoren und Heizgeräten. Das allein wird nicht reichen. Die Debatte um den Wiederaufbau des in weiten Teilen kriegszerstörten Landes ist längst im Gang.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die dafür veranschlagten Kosten mit jedem Tag neuer Zerstörungen von Häusern, Kliniken, Schulen, Brücken und Kraftwerken in die Höhe schnellen. Hatte die Regierung in Kiew die Kosten auf Basis von Beratungen des „Nationalen Rates für den Wiederaufbau der Ukraine“ noch im Sommer auf 500 Milliarden Dollar geschätzt, sprach der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal drei Monate später in Berlin von 750 Milliarden Dollar.
Je schneller die Kostenschätzungen steigen, desto wichtiger erscheint es, die Pläne dafür genau zu prüfen. Das haben jetzt Forscher des auf Osteuropa spezialisierten Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) getan, indem sie den im Juli in Lugano vorgelegten ukrainischen Wiederaufbauplan untersucht haben. Das Ergebnis, das der F.A.Z. exklusiv vorliegt, ist zwiespältig.
Lob für „Entoligarchisierung“
Zum einen sprechen die Ökonomen dem Regierungsplan „viele Stärken“ zu. Das betrifft vor allem die Vorschläge zur „Entoligarchisierung“ des Landes, der Stärkung der in der Ukraine traditionell schwachen und politisch abhängigen staatlichen Institutionen sowie die Beschleunigung der Integration in die EU mit der Harmonisierung von Vorschriften und die Sicherstellung des gegenseitigen Marktzugangs. Das seien Grundvoraussetzungen für eine nachhaltige und integrative Entwicklung der ukrainischen Wirtschaft.
Doch da, wo der Kiewer Arbeitsplan konkreter wird, fällt die Analyse vielfach ernüchternd aus: Adjektive, mit denen die Forscher die Pläne belegen, lauten „fragwürdig“, „ehrgeizig“ oder „unbegründet“. Es gebe „mehrere Mängel und verbesserungswürdige Bereiche“. Dass die Ökonomen die tatsächlichen Wiederaufbaukosten, ohne Ertüchtigung des Militärs, mit 410 Milliarden Dollar niedriger als die Regierung in Kiew ansetzen, spielt dabei nicht einmal die größte Rolle.
Wiederaufbau soll Modernisierung der Ukraine voranbringen
Überschätztes Wachstumspotential?
So überschätze die Regierung das Wachstumspotential der Wirtschaft des Landes nach dem Krieg. Ihre makroökonomischen Annahmen seien „sehr ehrgeizig und unbegründet“. Die Erwartung, das in diesem Jahr um ein Drittel schrumpfende Bruttoinlandsprodukt (BIP) werde sich von 2023 bis 2032 in Dollar gemessen verfünffachen, sei unrealistisch. Ähnliches gelte für den realen Wechselkurs, der der BIP-Prognose zugrunde liege. Als Beleg führen die Forscher andere Länder an. So sei das BIP in Kroatien oder Bosnien-Hercegovina in der Dekade nach den Kriegen Anfang der 90er Jahre allenfalls um das Dreifache gestiegen.
Diverse Vorhaben seien auch in steuerlicher Hinsicht unausgewogen: So sei eine Senkung der Steuerlast für Unternehmen und Bevölkerung auf höchstens 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes „wohl kaum mit dem enormen Bedarf an Investitionen in die Infrastruktur, der Erstattung kriegsbedingter Verluste und der massiven steuerlichen Unterstützung von Unternehmen in vorrangigen Sektoren vereinbar“.
Auch sei die im Falle von Steuersenkungen erwartbare Ausweitung des Haushaltsdefizits „nicht mit dem Ziel eines Rückgangs der Staatsverschuldung vereinbar, wie es der Plan vorsieht“. Sowohl bei der Verteilung der Nachkriegsfinanzierung auf die einzelnen Sektoren als auch bei Vorhaben in der Industriepolitik und im Finanzsektor müssten Anpassungen vorgenommen werden. Manche Programme überschneiden sich und weisen falsche Prioritäten auf. Landwirtschaft und Eisenmetallurgie werden als „wertschöpfende“ Sektoren behandelt und kommen so für eine breite Palette von Privilegien infrage. Die Auswahl der Sektoren sei „bis zu einem gewissen Grad rückwärtsgewandt“, sie extrapoliere lediglich die derzeitigen Wirtschaftsstrukturen.
Fehlender Bezug zur Nachkriegssanierung angemahnt
Manche Teile des Konjunkturprogramms beziehen sich auf traditionelle Staatsaufgaben, die wenig mit der Nachkriegssanierung zu tun haben, monieren die Forscher: „Die Sicherung der makrofinanziellen Stabilität oder die Entwicklung des Sports erscheinen im Kontext eines Wiederaufbauplans für die Nachkriegszeit seltsam.“ Für manche Projekte seien die Finanzpläne nicht fundiert.
Kritisch sehen sie auch die Überlegungen für eine dezentralisierte Steuerung des Wiederaufbaus. Dadurch könne es zu Überschneidungen, mangelnder Koordinierung und falschen Prioritätensetzungen kommen. Besser wäre es, wenn der Wiederaufbau im Kern auf nationaler Ebene gesteuert werde, schreiben die Gutachter.
Über die Frage, wie der Wiederaufbau gesteuert und bezahlt werden soll, wird in westlichen Hauptstädten und Thinktanks bereits ausgiebig beraten. Manche sehen auch in der Steuerung die Amerikaner in der Führungsrolle. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will für den langfristigen Wiederaufbau eine Steuerungsplattform etablieren, an der die Europäische Union, aber auch andere westliche Industrieländer maßgeblich beteiligt sein sollten.
Zweifellos werde die Ukraine auf ihrem Weg zur EU-Integration erhebliche finanzielle Unterstützung von ihren westlichen Partnern benötigen, schreiben die Wiener Forscher. Es sei wichtig, zu erkennen, dass der EU-orientierte Wiederaufbau der Ukraine „nicht nur als ein Akt der Nächstenliebe, sondern als pragmatische Politik im eigenen Interesse des Westens gesehen werden muss“. Ob dafür konfiszierte oder andere russische Vermögenswerte im Westen herangezogen werden können, wie die Regierungen in Kiew und Warschau und einige in Washington und Brüssel verlangen, sei offen. „Aus rechtlichen Gründen ist die Aufteilung dieser Kosten zwischen russischer Entschädigung und westlicher Hilfe noch nicht klar.“