Sunday, September 25, 2022

Teilmobilmachung in Russland: "In den Krieg zu ziehen, ist ein One-Way-Ticket"

ZEIT ONLINE Teilmobilmachung in Russland: "In den Krieg zu ziehen, ist ein One-Way-Ticket" Alisa Schellenberg, Anastasia Tikhomirova, Isolde Ruhdorfer - Freitag | Sie haben Angst, zum Militär eingezogen zu werden und wollen das Land verlassen. Junge Russen erzählen von ihren Fluchtplänen und warum sich das nicht jeder leisten kann. Viele männliche Russen versuchen seit der Teilmobilmachung, das Land zu verlassen. Der russische Präsident Wladimir Putin will laut offiziellen Angaben 300.000 Reservisten einziehen, um den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu stärken. Tausende Russ:innen demonstrieren gegen diesen Schritt, über 1.000 Menschen wurden verhaftet. Auch wenn angeblich vorerst nur Männer eingezogen werden sollen, die militärische Vorerfahrung haben, hat sich in Russland etwas verändert: Wer nicht kämpfen möchte und genug Geld hat, verlässt das Land. "Ich habe seit Kriegsbeginn darauf gespart, auszureisen" Alexandr, 27, arbeitet für ein IT-Unternehmen Ich habe mir vor ein paar Tagen ein Flugticket von Russland nach Israel gekauft, das hat 2.000 US-Dollar gekostet. Der Preis lag früher bei 200 Dollar, aber jetzt wollen alle das Land verlassen. Zurzeit gibt es wohl keine Probleme an den Grenzen, aber das könnte sich bald ändern. Es wird viel spekuliert. Ich habe die israelische Staatsbürgerschaft, habe meinen Master dort gemacht und das Unternehmen, für das ich arbeite, ist aus Israel. Für mich ist es einfach, umzuziehen. Aber viele Menschen in Russland haben nicht die finanziellen Mittel, auszureisen. Ich habe seit Kriegsbeginn darauf gespart und mir einen Plan gemacht, um beruflich nichts zu überstürzen. Eigentlich wollte ich noch ein paar Monate warten, aber das geht seit der Teilmobilmachung nicht mehr. Ich möchte nicht eingezogen werden. Aus Telegram-Gruppen weiß ich, dass an den Metrostationen angeblich Rekrutierer stehen, um Wehrpflichtige zu finden. Seitdem fahre ich Taxi. Ich gehe nicht mehr ins Büro, weil man theoretisch am Arbeitsplatz eingezogen werden könnte. Und ich öffne nicht mehr einfach so die Wohnungstür, wenn jemand klopft. Die Mobilmachung wird vor allem lokal organisiert, unter anderem von den Gouverneuren. Wie, wen und wo sie rekrutieren, da haben sie Spielraum. Aber wer in Putins Russland im öffentlichen Dienst Karriere machen oder sein Ansehen bewahren möchte, muss sich jetzt natürlich anstrengen, alles für den Krieg zu tun. Das gilt vor allem für die Eliten. »Zurzeit sind die Grenzen ins Ausland noch offen. Ich denke, in ein, zwei Wochen wird sich das ändern. « Alexandr Ich bin in der Mittelschicht von St. Petersburg aufgewachsen. Da sind viele Menschen gegen den Krieg. Auf dem Land sieht das oft anders aus, da unterstützen einige Putin und die Politik, die er macht. Das hat auch etwas mit Zugang zu unabhängigen Medien und mit Bildung zu tun. Putin ist an die Macht gekommen, da war ich sechs. Er präsentiert nicht das, was ich möchte. Viele Menschen in meiner Generation hätten von ihm mehr Verwestlichung erwartet, keinen Krieg gegen den sogenannten kollektiven Westen. Ich plane, in Israel zu bleiben, bis der Krieg vorbei ist. Meine Eltern bleiben in Russland. Sie haben schon vor Jahren viel über eine Emigration nachgedacht, fühlen sich inzwischen aber zu alt. Zurzeit sind die Grenzen ins Ausland noch offen. Ich denke, in ein, zwei Wochen wird sich das ändern. Angeblich sollen Menschen, die gegen den Krieg sind, ein wenig Zeit haben, um das Land zu verlassen. Das hat in Russland Tradition: Vor allem politischen Oppositionellen werden meist wenige Tage gegeben, um zu gehen. Sie sollen nur nicht wiederkommen. "Ich möchte nicht mehr mit Menschen reden müssen, die den Krieg gut finden" Valentin*, 22, Student Ich studiere Mathematik. Eigentlich sollte ich jetzt meinen Abschluss machen, ich bin im sechsten Studienjahr. Seit der Teilmobilmachung weiß ich nicht mehr, ob ich das Studium jemals beenden werde – denn dafür müsste ich zurück nach Russland. Ich bin kurz nach Kriegsbeginn mit einem Freund nach Georgien gezogen. Mir war damals nicht klar, was in Russland passieren würde, ob wir eingezogen werden würden. Wir konnten von Georgien aus weiterstudieren, weil es wegen Corona keine Anwesenheitspflicht gab. Außerdem wollte ich in Russland keine Steuern mehr bezahlen. Das Geld wird für den Krieg benutzt. Inzwischen kann ich mir nicht mehr vorstellen, dort zu leben. Ich möchte diese Z-Symbole nicht mehr sehen. Ich möchte nicht mehr mit Menschen reden müssen, die den Krieg gut finden. Das macht mich nur noch wütend. »Ich werde nicht nach Russland zurückkehren. Auch wenn mich das vielleicht mein Studium kostet. « Valentin Für den Abschluss müsste ich bis Oktober in Präsenz zurück an der Uni sein, weil die Corona-Regeln aufgehoben wurden. Wenn ich nicht erscheine, gibt es kein Zeugnis. Dann ist es, als hätte ich nie studiert. Ich würde gern promovieren, irgendwo in Europa. Ohne Abschluss wird das kaum gehen. Also hatte ich mir vor wenigen Tagen doch ein Rückflugticket nach Russland gekauft, um die Sache mit dem Zeugnis zu erledigen. Verwandtes Video: Russland mobilisiert Truppen | Was ist eine Teilmobilmachung? Dann kam die Teilmobilmachung und ich bin nicht geflogen. Ich habe gehört, dass Studierende nicht eingezogen werden, das wurde wohl festgelegt. Aber solche Regeln sind momentan nicht viel wert. Angeblich wurden schon Studierende aus Moskau mobilisiert. Angeblich wurden sogar Menschen eingezogen, die gegen den Krieg protestiert hatten und deshalb verhaftet wurden. Alle haben gerade Angst, dass ihnen das passiert. Ich werde nicht nach Russland zurückkehren. Auch wenn mich das vielleicht mein Studium kostet. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Einen richtigen Plan habe ich für mein Studium noch nicht. Selbst wenn ich die Uni wechseln würde, müsste ich zurück nach Russland, um Formulare zu unterschreiben. Ich will nicht in der Ukraine kämpfen. Russland wird diesen Krieg nicht gewinnen. Egal wie viele Soldaten hingeschickt werden. Ich würde entweder sterben oder von Ukrainern gefangen genommen werden. In den Krieg zu ziehen, fühlt sich an wie ein One-Way-Ticket. Ich kenne niemanden, der gern eingezogen werden würde. "Ich habe Freunde, die nicht fliehen können, weil sie sich um kranke Angehörige kümmern müssen" Bulat*, 31, arbeitete in der Kulturbranche Ich habe in Ulan-Ude in der Kulturbranche gearbeitet. Außerdem bin ich burjatischer indigener Aktivist. Ich habe Burjatien, eine autonome Republik in Russland, vergangene Nacht mit 10.000 Rubel in der Tasche und meinen Herbstsachen über den Grenzübergang Kjachta in Richtung der Mongolei verlassen. Eine Einberufung habe ich noch nicht erhalten. Aber die meisten der anderen Jungs, mit denen ich im Auto saß, haben eine. Bisher werden an den Grenzen alle durchgelassen – obwohl regierungstreue Medien die Gerüchte verbreiten, dass Beamte an den Grenzen stünden und dort Einberufungsbefehle verteilten. Die Situation kann sich natürlich jederzeit ändern, aber bisher sind mir keine derartigen Fälle bekannt. Sie machen das wahrscheinlich, um die Fluchtbewegung einzudämmen. Organisationen wie Asians of Russia und Free Buryatia Foundation koordinieren die Flucht in Bussen für diejenigen, die nicht genug Geld haben, um mit dem eigenen Auto zu fliehen. Sie teilen Informationen und vernetzen unterschiedliche Akteure miteinander. Ich habe Freunde, die gegen den Krieg sind, aber nicht fliehen können, weil sie sich um kranke Angehörige kümmern müssen. Ich habe Angst, mir vorzustellen, was mit ihnen und ihren Familien passiert, wenn sie einberufen werden. Teilweise mitten in der Nacht hämmern die Einberufungsbeamten an die Türen von Burjaten, um sie direkt ins Einberufungsbüro mitnehmen zu können. Laut burjatischen Aktivisten und russischen oppositionellen Medien berufen sie sogar alte, kranke und sehr junge Männer ein. Unter den Einberufenen sind, wie ich gehört habe, vergleichsweise wenige ethnische Russen. Deshalb fliehen viele burjatische Männer. Auch ich. Ich verlasse Russland aber auch wegen meines Aktivismus. Ich engagiere mich gegen den Krieg und gegen die Nationalitätenpolitik Russlands, die nationale Minderheiten unterdrückt. Wir standen mehrere Stunden am Grenzübergang, bis wir passieren konnten. Viele von uns hatten seit Tagen kaum geschlafen. Das Problem ist: Um in die Mongolei zu reisen, braucht man einen Reisepass. Den haben insbesondere arme Menschen oft nicht. Dennoch sind viele Burjaten in den vergangenen Stunden in der Mongolei angekommen, darunter viele mit ihren Kindern. Die Mongolen sind sehr freundlich und hilfsbereit zu uns. Wir sprechen Burjatisch, um uns mit ihnen zu verständigen – Burjatisch und Mongolisch sind relativ ähnlich. Timofey*, 28, Fernsehproduzent Als ich am 21. September hörte, wie Putin die Teilmobilmachung verkündete, empfand ich erst blanken Hass auf diesen alten Mann. Dann Verzweiflung. Ich bin Produzent in einer lokalen Fernsehredaktion, habe keine militärische Ausbildung und nicht gedient. Laut Putin sollte ich derzeit nicht einberufen werden. Aber die vergangenen zwei Tage haben gezeigt, dass alle eingezogen werden können. Ein Freund von mir – er hat ebenfalls keine militärische Ausbildung – hat bereits seine Einberufung erhalten. Er hat sie nicht unterschrieben, deshalb hat man den ganzen Tag an seiner Tür gehämmert. Aufgemacht hat er nicht, inzwischen ist er auch nicht mehr in der Wohnung. Er will versuchen, das Land zu verlassen. Ich habe nicht vor, auf meine Einberufung zu warten. Deshalb habe ich beschlossen, zu gehen. Ich fliege nächste Woche nach Kirgisistan. Die Tickets für den Flug sind teilweise achtmal so teuer wie üblich. Ich gehöre zu den achtzig Prozent der russischen Bevölkerung, die keinen Reisepass für Auslandsreisen besitzen. Um nach Kirgisistan einzureisen, benötigt man diesen nicht. Hoffentlich werden bis dahin die Grenzen nicht geschlossen. Falls das passieren sollte, habe ich keinen Plan, wie es weitergehen könnte. Sobald ich in Kirgisistan bin, versuche ich einen Homeofficejob über lokale Chatgruppen für russische Flüchtlinge zu finden. Oder ich schlage mich als Fotograf oder Filmemacher durch. »Lieber gehe ich ins Gefängnis als an die Front.« Timofey Jeder Tag Wartezeit könnte mich ein freies Leben kosten. Ich habe Angst, noch vor meiner Ausreise eine Einberufung in die Hand gedrückt zu bekommen. Diese werden in Burjatien gerade an jeder Ecke verteilt. Es kann passieren, dass die Polizei dich auf offener Straße als Mann im wehrfähigen Alter einsammelt und direkt ins Einberufungsbüro bringt, von wo aus du direkt ins militärische Ausbildungslager geschickt wirst. Niemanden interessiert die Rechtmäßigkeit des Ganzen. Aber lieber gehe ich ins Gefängnis als an die Front. Wie viele Russen möchte ich in Frieden leben, studieren, reisen, Kinder großziehen. Aber nun müssen wir unsere Häuser und Familien verlassen und aus dem Land fliehen. Ich mache mir Sorgen um meine Frau und meine Tochter, wie sie ohne mich klarkommen werden. Sie haben im November vor, nachzukommen. Ich bange auch um mein Land, weil nun die letzten aufrechten Menschen gezwungen sind, zu gehen. Der einzige Ort, an dem ich bisher im Ausland war, ist die Ukraine. Damals war ich zwölf Jahre alt. Mir hat es dort gefallen und ich habe keine "Faschisten" gesehen. Meine Halbschwester und ein sehr guter Freund, mit dem ich weiterhin in Kontakt bin, leben dort. "Ich habe nicht mal einen Reisepass, ich war noch nie im Ausland" Ilja*, 19, Student Seit Mittwochmorgen habe ich Angst, dass sie mich einziehen. Ich bin am Morgen um neun oder zehn Uhr aufgewacht und habe von der Teilmobilmachung auf Telegram gelesen. Es war nicht vollkommen unerwartet, trotzdem war ich geschockt. Später im Bus habe ich mir vorgestellt, dass sie mich in einer Woche abholen und irgendwo hinbringen könnten. Ich habe zwar einen Militärausweis, bin also formell registriert, aber habe keinen Wehrdienst geleistet. Ich werde vermutlich nicht als einer der Ersten einberufen werden. Aber die Sorge bleibt trotzdem. Gestern Nacht habe ich nur vier Stunden geschlafen. Die Situation ist wirklich beängstigend. Ich habe darüber nachgedacht, das Land zu verlassen, eigentlich schon seit dem 24. Februar. Ich war von Anfang an gegen diesen Krieg, er ist ein Verbrechen an den Menschen. Ich habe am Mittwoch geschaut, ob es Flüge nach Aserbaidschan gibt. Dorthin sind schon im März zwei Freunde von mir gefahren, weil sie gegen den Krieg sind und Angst vor den Repressionen in Russland hatten. Aber ich habe nicht mal einen Reisepass, ich war noch nie im Ausland. Ich habe auch Bedenken, dass ich mich in einem anderen Land nicht richtig verständigen könnte. Außerdem habe ich nicht genug Geld – ich studiere Informatik – und die Tickets in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku kosten gerade bis zu 10.000 Euro. In der Oblast Nischni Nowgorod, wo ich lebe, gibt es jetzt sogar eine Verordnung, dass Reservisten ihre Stadt nicht verlassen dürfen. Ich bin zwar kein Reservist, aber ich habe das Gefühl, dass es sehr schwierig ist, einfach wegzulaufen und sich einer Einberufung zu entziehen. Ich mache mir sehr viele Sorgen um meine Freunde und Bekannten. Vor allem diejenigen, die bereits den Wehrdienst absolviert haben. Sie werden vermutlich vor mir eine Vorladung bekommen. "Ich kann mir die Ausreise nicht leisten" Artjom*, 34, arbeitet in einer Bank Ich arbeite in einer Bank, aber bin Reserveoffizier. Ich habe ein Militärstudium absolviert und habe einen Militärausweis. Das macht meine Einberufung in den kommenden Tagen wahrscheinlich. Deshalb würden meine Familie und ich Russland gerne so schnell wie möglich verlassen. Nach der Ankündigung der Teilmobilmachung war ich schockiert. Es war, als rutschte mir der Boden unter den Füßen weg. Ich musste mich zusammenreißen, um zu Hause keine stressige Situation für mein Baby und meine Frau zu schaffen, die ohnehin die ganze Nacht wach gelegen und geweint hatte. Aus dem ersten Impuls heraus fuhren wir zu unserer Datsche. Auch, damit ich nicht zu Hause angetroffen und einberufen werden kann. Die Einberufungsschreiben kommen in der Regel per Post oder werden persönlich überreicht – um eine Unterschrift zu erzwingen. »Es ist gerade unmöglich, Pläne für die Zukunft zu machen.« Artjom Es gibt mehrere Hindernisse für mich, ins Ausland zu gehen: Ich habe meinen Wohnungskredit noch nicht abbezahlt. Deshalb fehlt mir das Geld, um für längere Zeit im Ausland leben zu können. Meine Frau kann uns finanziell nicht unterstützen, weil sie wegen unseres kleinen Sohns in Elternzeit ist. Außerdem erlaubt mein Arbeitgeber nicht, dass ich aus dem Ausland arbeite. Ich habe trotzdem eine dringende Bitte um die Erlaubnis eingereicht. Unser Arbeitgeber ist sonst sehr entgegenkommend: Als die Teilmobilmachung bekannt gegeben wurde, hat er die Unterlagen der männlichen Belegschaft eingesammelt. Er will uns helfen, die Einberufung juristisch zu umgehen. Es ist gerade unmöglich, Pläne für die Zukunft zu machen, weil alles so ungewiss ist. Schon nach dem 24. Februar, dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, war mir klar, dass meine Familie und ich dieses Land verlassen müssen. Ich habe mich auf viele Jobs in ausländischen Banken beworben, aber wurde entweder abgelehnt oder habe keine Antwort erhalten. Einen Tag vor der Teilmobilmachung habe ich endlich eine positive Rückmeldung aus England erhalten. Aber jetzt ist es unklar, ob oder wann ich Russland überhaupt verlassen können werde – Flüge sind derzeit sehr teuer, ich kann mir die Ausreise nicht leisten. *Aus Sorge vor Repressionen möchten Valentin, Timofey, Bulat, Ilja und Artjom ihre Namen nicht im Internet lesen. Ihre richtigen Namen sind der Redaktion bekannt.