Monday, April 28, 2025
So geht China systematisch gegen Dissidenten in Deutschland vor
DER SPIEGEL
So geht China systematisch gegen Dissidenten in Deutschland vor
Maria Christoph • 7 Std. • 7 Minuten Lesezeit
Der chinesische Staat drangsaliert in Deutschland lebende Uiguren, Tibeter und Demokratieaktivisten. Deutsche Behörden wissen von Morddrohungen, Cyberattacken und Nötigung, die Opfer beklagen zu wenig Schutz.
Das Foto kam per Mail, sechs bunt gefärbte Sturmgewehre sind darauf zu sehen, in Pink, Braun und Schwarz, säuberlich angeordnet auf einem blauen Tischtuch. Der Absender schrieb dazu: »Jeder von euch sucht sich seine Lieblingsfarbe aus«.
Eine Drohung. Gerichtet an Zumretay Arkin, Vizepräsidentin des Weltkongresses der Uiguren (WUC) und lautstarke Kritikerin Chinas.
Der anonyme Absender hatte der E-Mail ein weiteres Foto hinzugefügt: Es zeigt den Eingang eines Hotels in Sarajevo. Und zwar jenes Hotel, in das sich Arkin und andere Uiguren zu diesem Zeitpunkt, Ende Oktober 2024, eingemietet hatten. Die 31-Jährige besuchte gerade die WUC-Delegiertenversammlung.
Arkin und andere Kongressbesucher erinnern sich an zwei chinesische Männer in der Lobby, die die Uiguren filmten und fotografierten. »Ich stand unter Stress und Adrenalin, ich war super nervös und sorgte mich um die Sicherheit unserer Gruppe«, erinnert sie sich wenige Wochen später.
Arkin lebt in München, hier gibt es eine große Community mit Hunderten Exil-Uiguren, zudem hat der Weltkongress der Uiguren seinen Hauptsitz in der bayerischen Metropole. Von hier aus koordiniert Arkin Proteste, bereitet Vorträge vor den Vereinten Nationen vor, berät sich mit Politikern und anderen Exil-Uiguren.
Die Aktivistin glaubt, dass die Drohmail mit den farbigen Waffen Teil eines koordinierten und geplanten Einschüchterungsversuchs ist, möglicherweise direkt aus China. Bereits vor der Veranstaltung erhielten sie und andere Delegierte Drohungen von chinesischen Behörden, die sie wohl von der Teilnahme abhalten sollten. Fünf Delegierte der Organisation legten daraufhin ihre Ämter nieder. Im April verhafteten schwedische Behörden einen Mann, der im Auftrag Chinas den Uiguren-Weltkongress ausspioniert haben soll.
Angriffe dieser Art sind Teil eines Systems, das Experten »transnationale Repression« nennen: Gemeint ist die systematische Unterdrückung von Dissidentinnen und Dissidenten über Staatsgrenzen hinweg. Chinas Methoden reichen von Cyberattacken über Einschüchterung der Familien bis zu Falschbeschuldigungen und erzwungenen Rückreisen nach China. Westliche Geheimdienste gehen laut internen Unterlagen davon aus, dass der chinesische Staat in der Lage ist, »jeden überall auf der Welt rechtswidrig verhaften zu lassen«.
Arkin weiß, dass sie beobachtet wird, sie sagt, sie stehe auf einer »schwarzen Liste« der chinesischen Staatsführung. Sie ist in Ürümqi geboren und aufgewachsen, der Hauptstadt der autonomen Region Xinjiang. Als sie zehn Jahre alt war, zog Arkin mit ihrer Familie aus der Region weg, das chinesische Regime habe mehr als 30 ihrer Verwandten festgenommen, sagt sie.
Einschüchterung wird professioneller
Drohungen wie die gegen Zumretay Arkin sind offenbar Teil einer Strategie Chinas. Der SPIEGEL und andere Medien haben zusammen mit dem International Consortium of Investigative Journalists über 100 Fälle aus mehr als 20 Ländern zusammengetragen, in denen China gezielt Kritikerinnen und Aktivisten im Ausland mit Morddrohungen, Nötigung und Cyberattacken angegriffen hat. Allein in Deutschland ein Dutzend. Es geht offenbar darum, Angst zu säen.
Und eine Botschaft zu senden: Wir wissen, wo du bist. Und denk bloß nicht, dass du sicher bist.
Zugleich fühlen sich viele Uiguren, Tibeter, Menschen aus Hongkong und Taiwan in Deutschland zu wenig geschützt. Das Bundeskriminalamt erfasst die Fälle von Bedrohung und Unterdrückung von Dissidenten durch China nicht einmal statistisch. Und das, obwohl die Versuche, Menschen wie Zumretay Arkin verstummen zu lassen, professioneller werden.
Aus Regierungskreisen heißt es, »die besorgniserregende Menschenrechtslage« werde »von der Bundesregierung regelmäßig und auf allen Ebenen angesprochen«. Außerdem protestiere die Bundesregierung »in schärfster Weise« gegen »Versuche der illegitimen Einflussnahme auf deutschem Staatsgebiet«. Alle zur Verfügung stehenden nachrichtendienstlichen Mittel würden zur »Aufklärung und Abwehr von Repressionsaktivitäten fremdstaatlicher Akteure gegen in Deutschland lebende Dissidenten« angewandt.
Auch Arkins Kollege Erkin Zunun kennt das Vorgehen. Im Frühjahr 2025 erhielt der Menschenrechtsaktivist eine E-Mail, die mit »Ramadan Mubarak!« begann – einem scheinbar freundlichen Gruß zum islamischen Fastenmonat. Sie enthielt einen Link zu einem angeblichen Textprogramm in uigurischer Sprache, Zunun sollte es testen.
Warnungen von Google
Doch dahinter steckte ein Trojaner, ein Schadprogramm, das Antivirenprogramme umgeht, Sicherheitseinstellungen aushebelt, IP-Adressen sammelt, Identifikationsnummern speichert, lokale Dateien herunterlädt und an den Angreifer schicken kann.
Ein Spion im System also.
Das Citizen Lab, eine renommierte Forschungsgruppe an der Universität Toronto, bestätigt: Der gesamte Angriff, einschließlich aller beobachteten Methoden und Taktiken, stimmte mit bekannten Attacken staatlicher chinesischer Hackergruppen überein.
Dazu passt, dass Zunun in den vergangenen vier Jahren fünfmal von Google gewarnt wurde: »Ein staatlicher Akteur« habe versucht, auf seine Google-Konten zuzugreifen. Zuletzt am 1. April 2025. Auch zwei seiner Kollegen erhielten Google-Warnungen, im März am selben Tag. Der SPIEGEL kennt insgesamt sechs Fälle, bei denen Uiguren oder Demokratieaktivisten vor staatlichen Hackingattacken gewarnt wurden.
Eine Auswertung der Nichtregierungsorganisation Freedom House zeigt, dass mehr als jeder fünfte Fall transnationaler Repression von China ausgeht. Die Volksrepublik führt damit die Liste der Staaten an, die ihre Bürger außerhalb der eigenen Staatsgrenzen schikanieren.
Und das auch in Deutschland: Der Verfassungsschutz spricht auf Anfrage des SPIEGEL von einem »Eingriff in die Souveränität und Sicherheit Deutschlands«. Transnationale Repression, egal in welcher Form, verletze »grundlegende Menschenrechte«. Man gehe allen Hinweisen nach und tausche sich auch mit potenziell Betroffenen darüber aus.
Anfang April warnten deutsche Sicherheitsbehörden zusammen mit kanadischen, britischen, australischen und amerikanischen Geheimdiensten vor Schadsoftware für Mobiltelefone aus China, die »zur Ausspähung von chinesischen Minderheiten im Ausland und Dissidenten verwendet« werde.
Die chinesische Botschaft in Berlin reagierte bisher nicht auf eine Anfrage des SPIEGEL zu den Vorwürfen.
Das EU-Parlament fordert die EU-Staaten explizit auf, jene Personen zu schützen, die durch die Volksrepublik »schikaniert und verfolgt werden«. Dieser Schutz aber bleibe oft lückenhaft, klagen Betroffene. Es gebe nur selten Ermittlungen, kaum Konsequenzen.
Dabei hätten sich die Angriffe aus Peking intensiviert, schreibt Adrian Zenz in einer aktuellen Analyse. Der deutsche Anthropologe wurde durch seine Forschung zu den Gulag-ähnlichen Lagern in Xinjiang bekannt. Er hat interne und öffentlich zugängliche Regierungsunterlagen geprüft: Unter Staatspräsident Xi Jinping sei diese Art der Verfolgung zu einer wichtigen Säule des Machterhalts geworden. Kritiker seines Regimes würden als »feindliche Kräfte« und »potenzielle Terroristen« gebrandmarkt, »deren Aktivitäten überwacht und letztlich unterdrückt werden müssen«.
China nutzt Interpol
Thomas Wenzel spricht von einem »Klima der Angst«, das China in der uigurischen Community verbreite. Der Psychiater bezeichnet chinesische Staatspropaganda, die die Menschen verteufelt, als in den Auswirkungen wie »Folter« für die Betroffenen.
Darunter fällt laut Wenzel auch, dass alle Uiguren von der chinesischen Regierung pauschal zu »Terroristen« erklärt und damit repressive Maßnahmen gerechtfertigt werden. Das chinesische Regime missbraucht dafür unter anderem das internationale Fahndungssystem von Interpol: Durch »rote Ausschreibungen« sollten als »Terroristen« bezeichnete Uiguren festgenommen und zurück nach China geschickt werden.
Jahrelang wurde etwa Dolkun Isa, der ehemalige Leiter des Weltkongresses der Uiguren, von Interpol als »Terrorist« gesucht und regelmäßig an Flughäfen aufgehalten – bis Interpols Kontrollorganisation eine Löschung des Gesuchs wegen der »überwiegend politischen Dimension« durchsetzte.
Die Bundesregierung aber pflegt ihre Beziehungen zu Peking. China ist neben den USA für Deutschland einer der wichtigsten Handelspartner. Und man kooperiert auch in anderen Bereichen – selbst auf militärischer Ebene.
Austausch in der Botschaft
So begrüßte der chinesische Botschafter Deng Hongbo laut Pressemitteilung am 10. Oktober 2024 in Berlin 30 Auszubildende der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. In der chinesischen Botschaft berichtete der Diplomat von der »friedlichen Koexistenz«, dass China »Offenheit und Inklusivität« fördere und aus »Harmonie in der Vielfalt« bestehe.
Das Treffen ist keine Ausnahme, das belegen Bundestagsunterlagen, die als Verschlusssache eingestuft sind, dem SPIEGEL aber vorliegen. Demnach wurde zuletzt im November 2024 ein gemeinsames Treffen zur Sicherheitspolitik abgehalten, das im Rahmen eines Austauschs von Jungdiplomaten zwischen Deutschland und China stattfand. 122 offizielle Delegationsbesuche fanden von 2014 bis 2024 zwischen dem deutschen Verteidigungsministerium und chinesischen Streitkräften statt, mindestens 80 chinesische Militärkräfte wurden in Deutschland ausgebildet.
Die systematische Unterdrückung der Uiguren und die Absicht, Taiwan militärisch einzunehmen, waren international bekannt, die Bilder brutaler Polizeieinsätze gegen Demokratieaktivisten in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong längst um die Welt gegangen.
Aus Regierungskreisen heißt es, die Bundesregierung unterhalte mit China lediglich »Dialogformate«, »eine militärische Wissens- oder Fähigkeitsvermittlung« werde dabei strikt vermieden. »Seit 2023 werden keine Angehörigen der chinesischen Streitkräfte aus- oder fortgebildet.«
Auch Rya ist eine jener Demokratieaktivistinnen. Sie heißt eigentlich anders, möchte ihren Namen jedoch nicht im SPIEGEL lesen. Die Chinesin ist Mitte dreißig und lebt seit einigen Jahren in Deutschland, in China war sie das letzte Mal vor dem Ausbruch der Coronapandemie.
Kritischer Post kann Folgen haben
Seit 2021 engagiert sie sich für die Hongkong-Bewegung in Berlin. Ihr Vater soll deswegen drei Monate lang jeden Tag an seinem Arbeitsplatz Besuch von der chinesischen Polizei bekommen haben. Anfang 2023 tauchten Polizisten vor der Haustür ihrer Eltern auf.
Um dem »Terror ein Ende zu setzen«, verfasste Rya daraufhin eine handschriftliche Erklärung, wonach sie sich nicht mehr an »Aktivitäten beteiligen wird, die das Mutterland diffamieren«.Und sie versprach, »nichts zu tun, was negative Auswirkungen auf das Mutterland hat«. Mit dem »Mutterland« ist China gemeint.
Ähnlich erging es auch anderen Mitgliedern ihrer Protestgruppe. Acht Betroffene berichten dem SPIEGEL, dass ihre Familien in China wegen ihrer Aktivitäten bedroht worden seien. Schon eine Demo vor dem Brandenburger Tor oder ein kritischer Post im Internet kann für die Angehörigen in Tibet oder Xinjiang unangenehme Folgen haben.
Sie spreche das Thema gegenüber der chinesischen Seite »mehrfach und mit der gebotenen Deutlichkeit auf verschiedenen Ebenen« an, ließ die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP wissen. Verletzungen der in der Bundesrepublik Deutschland garantierten Grundrechte und -freiheiten seien »nicht hinnehmbar und sofort einzustellen«. Man biete den Betroffenen »geschützte Räume« und suche den Austausch, heißt es in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU.
Erpressung deutscher Politiker
Dass sich die deutschen Behörden so wenig engagieren, ist erstaunlich. Denn Chinas Methoden machen inzwischen nicht einmal vor deutschen Politikern halt.
Dem SPIEGEL liegen Hinweise vor, dass ein Mitglied des Deutschen Bundestags mit einem anonymen Schreiben bedroht wurde. Die Person möchte aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden. Experten hätten die Nachricht eindeutig zuordnen können: Schreiben wie dieses würden die Handschrift des chinesischen Geheimdienstes tragen. Ein Erpressungsversuch.
Der Verfassungsschutz bestätigt Fälle, »wonach China auch mit Zwang arbeite, um Regimekritiker einzuschüchtern«. Aus Regierungskreisen heißt es, Mitglieder des Deutschen Bundestags würden zu den Gefahren, die von ausländischen Geheimdiensten ausgehen, sensibilisiert, Gefährdungslagen beurteilt und Schutz zugesichert, der, wenn erforderlich, »weit über die sichtbare Begleitung von Schutzpersonen« hinausgehe.