Tuesday, December 10, 2024

Zurück zur Kernkraft? Eine Studie zeigt, wie viel der Wiedereinstieg Deutschland kosten würde

Zurück zur Kernkraft? Eine Studie zeigt, wie viel der Wiedereinstieg Deutschland kosten würde Neue Zürcher Zeitung Deutschland Zurück zur Kernkraft? Eine Studie zeigt, wie viel der Wiedereinstieg Deutschland kosten würde Johannes C. Bockenheimer, Berlin • 17 Std. • 3 Minuten Lesezeit Das Atomkraftwerk Brokdorf in Schleswig-Holstein wurde 2021 stillgelegt. Laut einer Studie wäre ein schnelles Hochfahren des Reaktors technisch möglich. Es war ein denkbar schlechter Moment für den Ausstieg: Als die deutsche Regierungskoalition im April 2023 die letzten drei Atomkraftwerke vom Netz nahm, steckte das Land inmitten der grössten Energiekrise seiner Geschichte. Russlands Überfall auf die Ukraine hatte die Energiepreise in die Höhe getrieben, was die Verbraucher, nicht zuletzt aber auch die Industriebetriebe zu spüren bekamen. Doch in Berlin blieb man hart: Atomkraft? Nein danke. Zwanzig Monate später ist die Lage noch immer angespannt. Der Strompreis für Grossabnehmer aus der Industrie hat sich seit 2021 fast verdreifacht, auf heute knapp 14 Cent pro Kilowattstunde. Die verbliebenen Kernkraftwerke könnten in dieser Situation also für Entspannung sorgen. Investitionen von 20 Milliarden Euro nötig Das amerikanische Beratungsunternehmen Radiant Energy Group hat jetzt durchgerechnet, was ein Wiedereinstieg in die Kernenergie kosten würde. Das Ergebnis: Mit Investitionen von rund 20 Milliarden Euro könnten neun deutsche Reaktoren wieder ans Netz gebracht werden. Zum Vergleich: Allein der Aufbau der LNG-Infrastruktur nach dem Ende der russischen Gaslieferungen verschlang über 15 Milliarden Euro. Auch die Wirtschaftlichkeit wäre demnach gegeben: Bei einem Stromabnahmepreis von 100 Euro je Megawattstunde könnten die Reaktoren über die kommenden zwanzig Jahre hinweg mehr als 100 Milliarden Euro Gewinn erwirtschaften, rechnet das Unternehmen vor. Es verweist zudem auf ein aktuelles Beispiel aus den USA: Der Softwarekonzern Microsoft hat kürzlich eine wegweisende Vereinbarung unterzeichnet. Für die Wiederinbetriebnahme des Kernkraftwerks Three Mile Island im Gliedstaat Pennsylvania will der Konzern zwischen 110 und 115 US-Dollar pro Megawattstunde zahlen. In Deutschland könnten gemäss der Studie drei Reaktoren besonders schnell reaktiviert werden. Der Meiler Brokdorf in Schleswig-Holstein könnte bereits Ende 2025 wieder Strom produzieren. Die niedersächsischen Kraftwerke Emsland und Grohnde könnten bis 2028 folgen. Sechs weitere Reaktoren wären bis 2032 wieder betriebsbereit. Ökonom drängt auf faire Risikoverteilung Auch der Energieexperte Manuel Frondel vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung sieht Potenzial bei einem Wiedereinstieg. «Wenn man die Klimaziele kostengünstig erreichen möchte, wäre die Reaktivierung von neun AKW sicherlich sehr hilfreich, besonders bei einer Laufzeit von zwanzig Jahren», sagt er im Gespräch mit der NZZ. Aus volkswirtschaftlicher Sicht wäre die Reaktivierung besonders deshalb ein Gewinn, weil dann nachts weniger Strom zu hohen Preisen aus dem Ausland importiert werden müsste, so Frondel weiter. Der Ökonom mahnt allerdings klare Finanzierungsregeln an. Die Atomstrommengen sollten versteigert werden, fordert er, und die Erlöse in den «Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung» fliessen. So liesse sich verhindern, dass die Gesellschaft am Ende die Entsorgungskosten trage, während private Unternehmen die Gewinne einstrichen. Technisch wäre ein Neustart machbar, allerdings nicht einfach. Davon ist der Geschäftsführer des TÜV-Verbands, Joachim Bühler, überzeugt. Er hält eine Wiederinbetriebnahme der drei zuletzt abgeschalteten Kernkraftwerke für «sicherheitstechnisch höchst anspruchsvoll, aber nicht unmöglich», wie er der NZZ sagte. Allerdings dränge die Zeit. Mit jeder weiteren Rückbaumassnahme werde eine Reaktivierung komplexer, warnt er. Nach seiner Einschätzung müsste man für einen Neustart der drei jüngsten Meiler mindestens drei Jahre einplanen. Politik hat Kernkraft schon abgeschrieben Von solchen Überlegungen will man in Berlin allerdings nichts wissen. Die Kernkraft sei ein «totes Pferd», stellte Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach dem Atom-Aus im vergangenen Jahr fest. Atomenergie sei nicht wettbewerbsfähig, assistierte Vizekanzler Robert Habeck. Die Union ist beim Thema gespalten. Der CDU-Chef und Oppositionsführer Friedrich Merz erklärte das Thema Kernenergie Anfang des Jahres für «entschieden». Später legten Energiefachleute der Partei ein Konzeptpapier vor, in dem sie eine Prüfung der Wiederinbetriebnahme von Meilern forderten. Auch neue Reaktorkonzepte sollen erforscht werden. Ein Neubau wird nicht darin nicht gefordert. Die FDP zeigt sich deutlich offener in der Debatte. «Wenn Unternehmen bereit sind, ohne Subventionen in die Kernkraft zu investieren, darf es keine ideologischen Denkverbote geben», sagt der energiepolitische Sprecher Lukas Köhler im Gespräch mit der NZZ. Es brauche marktwirtschaftliche Lösungen, die Wachstum und technologische Innovationen förderten. «Technologieoffenheit ist der Schlüssel.» Auch die Kraftwerksbetreiber selbst zeigen wenig Interesse an einem Neustart. Der Ausstieg sei «praktisch gesehen irreversibel», erklärte der EnBW-Kernkraft-Chef Jörg Michels diese Woche in der «Augsburger Allgemeinen». Der RWE-Chef Markus Krebber wiederum nannte in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» Anfang November einen Wiedereinstieg «unrealistisch» – es fehle an Genehmigungen, Personal und finanziellen Sicherheiten. Vor allem aber zweifelt Krebber an der Wirtschaftlichkeit: Viele Neubauprojekte würden «aus dem Ruder laufen». Deutschland wählt Sonderweg International allerdings steht Deutschland beim Thema Kernkraft zunehmend isoliert da. Frankreich plant vierzehn neue Reaktoren, Polen steigt erstmals in die Kernkraft ein. Selbst das traditionell atomkritische Schweden will neue Meiler bauen. Der Fall Microsoft zeigt zudem, dass auch internationale Konzerne stärker auf Atomstrom setzen. Vor allem der Boom der künstlichen Intelligenz treibt den Strombedarf der Tech-Konzerne massiv in die Höhe. Neben Microsoft planen deshalb auch Google und Meta eigene Kernkraftprojekte. Bis 2030 wollen die Tech-Konzerne mehrere Gigawatt Atomstrom unter Vertrag nehmen.