Sunday, December 1, 2024
Pariser Panikattacken
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Pariser Panikattacken
Henrik Müller • 1 Std. • 7 Minuten Lesezeit
Hohe Schulden, dysfunktionale Politik: Frankreich schiebt 3,2 Billionen Euro Schulden vor sich her. Nun gefährden gestiegene Zinsen und eine aus den Fugen geratene Politmaschinerie die finanzielle Stabilität. Leider kein Einzelfall.
Am Montag soll sich entscheiden, ob Frankreich in eine tiefe politische und finanzielle Krise taumelt. Regierungschef Michel Barnier hat keine Mehrheit. Ob er seinen Haushalt durchs Parlament bekommt, hängt vor allem von der Zustimmung des hartrechten Rassemblement National ab. Dessen Anführerin Marine Le Pen stellt allerlei Bedingungen. Bis zum Wochenbeginn hat sie der Regierung Zeit für weitere Änderungen gegeben.
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Die Lage ist heikel. Möglich, dass in Frankreich bis Weihnachten die Regierung per Misstrauensvotum aus dem Amt gestimmt wird, dass das Land auf absehbare Zeit ohne Staatshaushalt dasteht – und dass die Finanzmärkte von Panikattacken befallen werden.
Parallelen zu Griechenland 2010
Es ist ein Tanz am Rande des Vulkans. Mancher in Frankreich zieht bereits Vergleiche zu Griechenland im Jahr 2010: ein hoch verschuldeter Staat, geführt von einem dysfunktionalen politischen Apparat, der nicht in der Lage ist, die öffentlichen Finanzen zu managen. Griechenland taumelte damals Richtung Staatspleite.
Der erste Dominostein der Eurokrise. Weitere folgten – Irland, Portugal, Zypern … Immer wieder stand die Eurozone damals vor Situationen, in denen ein Scheitern Europas als reale Gefahr aufschien.
Die griechische Krise dauerte bis 2015, weil es lange Zeit nicht gelang, einen politischen Konsens zu erzielen, der der düsteren finanziellen Lage des Staates gerecht geworden wäre. Es stand damals sogar der Idee im Raum, das Land aus dem Euro zu werfen. Ein drastischer Schritt, der den Euro und die europäische Integration insgesamt hätte beenden können. Die Regierungen schreckten letztlich doch davor zurück.
Risikoaufschläge drastisch gestiegen
Dass in der abgelaufenen Woche die Risikoaufschläge auf französische Staatsanleihen zeitweise die griechischen Werte überstiegen, hatte mehr symbolische als tatsächliche ökonomische Bedeutung. Aber die Befürchtung, in Paris könnten bald die Lichter ausgehen, wie damals in Athen, wurde damit noch verstärkt.
Ist Frankreich das neue Griechenland? Das ist einerseits total übertrieben. Frankreich ist wohlhabend, produktiv und fährt enorme Steuereinnahmen ein.
Andererseits ist es eine krasse Beschönigung der potenziellen Probleme.
Giftige Verhandlungen
Griechenland hatte damals auf dem Höhepunkt der Krise Staatsschulden von gut 350 Milliarden Euro. Das entsprach 180 Prozent der Wirtschaftsleistung. Klingt viel, aber gemessen an der gesamten Euro-Wirtschaftsleistung war der Betrag durchaus handhabbar. Die Euro-Rettungsschirme und der Internationale Währungsfonds (IWF) verfügten über genügend Mittel, einen Großteil der griechischen Staatsanleihen aufzukaufen, damit das Land faktisch vom Finanzmarkt zu nehmen und mit lang laufenden, niedrig verzinsten Überbrückungskrediten unter die Arme zu greifen.
Während die giftigen Verhandlungen über diesen Deal liefen, konnte man damals von hochrangigen Regierungsvertretern hören, man gehe davon aus, dass Griechenland „nicht systemrelevant“ sei. Mit anderen Worten: Für die europäische Wirtschaft und die Stabilität der Finanzmärkte sei die Bedeutung des Landes so gering, dass die Folgen einer Staatspleite samt Austritt aus dem Euro vermutlich locker zu verkraften seien.
Aber ganz so sicher war man sich eben doch nicht. Panikreaktionen und Ansteckungseffekte sind nie auszuschließen. Deshalb ließen es die Mitgliedstaaten letztlich nicht drauf ankommen, sondern setzten letztlich auf Überbrückungsfinanzierungen und harte Sparprogramme.
Frankreich ist systemrelevant
Frankreich hingegen ist eindeutig systemrelevant: die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, Mitglied der G7 und des UN-Sicherheitsrats. Das Land hat heute Schulden von 3,2 Billionen Euro, fast zehnmal so viel wie Griechenland damals.
Allein dieses Jahr muss der Pariser Finanzminister neue Schulden von mehr als 170 Milliarden Euro aufnehmen. Das entspricht etwas mehr als 6 Prozent der Wirtschaftsleistung. Dazu kommt noch die Refinanzierung von Altschulden, die durch neue Anleihen abgelöst werden müssen. Insgesamt plant das Finanzministerium für 2025 eine Schuldenaufnahme von mehr als 300 Milliarden Euro.
Zu groß für den Rettungsschirm
Kein europäischer Rettungsschirm reicht aus, um solche Summen zu stabilisieren. Ganz klar: Frankreich ist zu groß und zu hoch verschuldet, als dass es durch eine solidarische EU-Gemeinschaftsaktion so einfach aufgefangen werden könnte. Sollte es zu einer akuten Staatsschuldenkrise kommen, wären die Folgen für den Euro und die EU gravierend. Rien ne va plus?
Schlimmer noch: Angesichts der veränderten internationalen Bedrohungslage wäre eine erneute und umso tiefere Eurokrise ein geostrategisches Desaster sondergleichen. Im Ringen mit Russland, China und Donald Trumps Amerika ist Europa auf ein leistungsfähiges Frankreich dringend angewiesen. Nur gemeinsam werden wir gegen die Bedrohungen bestehen können.
"Le Spread" weitet sich aus
In Frankreich zeigt sich, wie ein toxischer Mix aus hoher Verschuldung, populistischer Politik und steigenden Zinsen Europa in Bedrängnis bringt. Dass die Parteien der Mitte keine Mehrheit in der Nationalversammlung mehr haben, liegt am starken Abschneiden von Le Pens Rechtspopulisten und der vereinigten Linken, deren faktischer Wortführer der Agitator Jean-Luc Mélanchon ist. Gemeinsam blockieren sie jetzt einen Sparhaushalt, mit dem Barnier versucht, die Defizite in den Griff zu bekommen – mit Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen.
Alles nicht schön. Doch letztlich geht es darum, Investoren von der dauerhaften Zahlungs- und Handlungsfähigkeit des französischen Staats zu überzeugen.
Wie stark das Vertrauen der Gläubiger angeknackst ist, zeigen die gestiegenen Risikoaufschläge, die inzwischen auf französische Anleihen fällig werden ("le spread"). Sie dürften noch weiter in die Höhe schießen, sollten Regierung und Sparhaushalt scheitern. Die Nervosität resultiert aus dem Risiko einer Kettenreaktion: Steigende Zinsen verteuern den Schuldendienst weiter und reißen noch größere Löcher in den Haushalt – schlimmstenfalls eine unentrinnbare Abwärtsspirale.
Eine Währung, zwei Länder, 25 Jahre
Erstaunlich, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Als die Währungsunion begann, hatten Frankreich und Deutschland in etwa gleich hohe Schuldenlasten – links und rechts des Rheins lagen die Verbindlichkeiten bei 60 Prozent der jeweiligen Wirtschaftsleistung. Deutschland ist heute immer noch auf diesem Niveau, Frankreich jedoch aktuell bei 112 Prozent, wie der IWF schätzt.
In den meisten Jahren seit 1999, dem Euro-Gründungsjahr, klaffte im Pariser Staatshaushalt ein Defizit von mehr als drei Prozent, der Grenzwert des Euro-Stabilitäts- und Wachstumspakts. Die Finanz- und die Coronakrise trieben die Schulden stufenweise immer weiter nach oben. Das war in vielen Ländern so. Deutschland beispielsweise hatte nach der Finanzkrise eine Schuldenquote von 80 Prozent, in etwa so hoch wie Frankreichs. Doch während in Deutschland die Schuldenlasten zurückgeführt wurden – gewiss, auch auf Kosten von Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Militär –, stiegen sie in Frankreich immer weiter.
Was Anleger nervös macht
Wie andere Länder auch kommt Frankreich vorerst aus der Verschuldungslogik nicht heraus. In der Tendenz gibt der Staat in Relation zur Wirtschaftsleistung immer mehr Geld aus. Inzwischen liegt die Ausgabenquote in Frankreich knapp unter 60 Prozent – einer der höchsten Werte weltweit. Die Steuerquote hingegen ist weitgehend konstant geblieben, bei aktuell 51 Prozent, wie der IWF schätzt. Um die Differenz zu decken, muss der Finanzminister Schulden aufnehmen.
Das war kein Problem, solange die Zinsen extrem niedrig waren. Doch die Rückkehr der Inflation hat die Zinsen nach oben getrieben. Mit Zeitverzögerung wird nun der Schuldendienst teurer: Wenn alte, niedrig verzinste Anleihen auslaufen, müssen sie durch neue, höher verzinste Papiere refinanziert werden. Je wackliger die innenpolitische Lage erscheint, desto höhere Risikoaufschläge kommen noch mal obendrauf.
Damit wird die Zinsdifferenz gegenüber deutschen Bundesanleihen, die in Europa als Maßstab gelten, zu einer zentralen Orientierungsgröße der Finanzpolitik. Was immer die Anleger nervös macht, ist zu unterlassen.
Italien scheint wieder in der Spur
In Italien (Schuldenstand: gut 140 Prozent) geht das bislang halbwegs gut. Die rechtsnationale Regierungschefin Giorgia Meloni steht einer Regierung vor, die finanzpolitische Berechenbarkeit zu ihrem Prinzip gemacht zu haben scheint. Die Aufschläge sind zuletzt wieder gesunken.
In Großbritannien (Schuldenstand: rund 100 Prozent), das eine eigene Währung hat und nicht mal mehr EU-Mitglied ist, wurde im Herbst 2022 deutlich, wie wacklig die öffentliche Finanzlage ist: Allein die Ankündigung schuldenfinanzierter Steuersenkungen durch die damalige Regierungschefin Liz Truss genügte, eine Minifinanzkrise auszulösen, die die Bank von England nur mit Mühe unter Kontrolle bringen konnte. Der inzwischen ins Amt gewählte Labour-Premier Keir Starmer bemüht sich deshalb vor allem um Seriosität und Langeweile.
Es ist immer die gleiche Geschichte: Bei hohen Schulden und steigenden Zinsen rücken Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen auf die Agenda. Das ist unpopulär. Regierungen mit klaren Mehrheiten können diesen Kurs eine Zeit lang durchhalten. Wo Minderheitsregierungen im Amt sind und Populistinnen und Populisten den Bürgern falsche Versprechungen machen, wie in Frankreich, ist ein Kurswechsel umso schwieriger.
Drama, baby!
Und wenn die Sache schiefgeht? Was passiert, wenn Frankreich tatsächlich in eine Spirale aus steigenden Zinsen und immer höheren Schulden hineingesogen wird, aus der es sich nicht mehr aus eigener Kraft befreien kann?
Der Euro-Rettungsschirm ESM wird Frankreich nicht auffangen können, der IWF auch nicht. Die einzige Institution, die genug Mittel hat, ist die Europäische Zentralbank (EZB). Da die EZB selbst prinzipiell unbegrenzt Geld schaffen kann, könnte sie Frankreich beispringen, also Anleihen vom Markt kaufen und so Kurse und Zinsen stabilisieren. Das entsprechende Instrument ist seit Herbst 2012 in Kraft: das OMT-Programm ("Outright Monetary Transactions"), das die Ankündigung des damaligen EZB-Chefs Mario Draghi formalisiert, er werde die Eurozone zusammenhalten "whatever it takes".
Es ist nur so: Erneute großvolumige Anleihekäufe könnten abermals die Inflation anfachen. Und: Unbegrenzte Interventionen sind nach OMT-Programm nur möglich, wenn das entsprechende Land zuvor ein Sanierungsprogramm mit dem ESM vereinbart hat. Und dessen Vorgaben würden um einiges härter ausfallen als Barniers derzeitiger Haushaltsentwurf.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche
Montag
Paris – Empört Euch! – In Frankreich spitzt sich der Haushaltsstreit zu. Sollte Premier Barnier das Budget per Dekret durchsetzen, droht ein Misstrauensvotum, das die Regierung stürzen könnte.
Frankfurt – Schwaches Geschäft – Der Maschinenbauverband VDMA veröffentlicht neue Zahlen zum Auftragseingang im Oktober.
Dienstag
Berlin – Jugend, forsch? – Diskussionsveranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) zum Thema "Gesellschaftsjahr", mit Bundespräsident Steinmeier, dem KAS-Vorsitzenden Norbert Lammert und der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages Eva Högl.
Mittwoch
Shanghai – Wenig süß, viel sauer – Die Deutsche Handelskammer in China stellt ihre Geschäftsklimaumfrage vor. Seit Jahren klagen die Firmen über übergriffige Behörden und flaue Konjunktur.
Frankfurt – Wer kommt rein, wer muss raus? – Die Deutsche Börse überprüft turnusgemäß die Zusammensetzung der Dax-Indizes.
Donnerstag
Geschäftszahlen von Hewlett Packard.
Freitag
Wiesbaden – Nach der Globalisierung – Das Statistische Bundesamt veröffentlicht neue Zahlen vom deutschen Export.
Hamburg – Gedächtnislücken – Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Cum-Ex-Skandal befragt mehrere Zeugen, darunter Olaf Scholz.