Thursday, December 5, 2024
Merkel als Zeugin im Afghanistan-Ausschuss: „Das war ein wirkliches Dilemma“
Tagesspiegel
Merkel als Zeugin im Afghanistan-Ausschuss: „Das war ein wirkliches Dilemma“
Christopher Ziedler • 9 Std. • 3 Minuten Lesezeit
Die frühere Kanzlerin ist vom Untersuchungsausschuss zum Ende des Afghanistan-Einsatzes vernommen worden. Mit ihrer Politik, so Merkel, wollte sie den Sieg der Taliban nicht noch beschelunigen.
Mit der Befragung von Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) ist die Vernehmung von Zeugen durch den Ausschuss voraussichtlich abgeschlossen.
Der Andrang ist riesig. So viel Aufmerksamkeit wie jetzt, als Angela Merkel im Paul-Löbe-Haus dem Aufzug vor dem Europasaal mit der Nummer 4900 entsteigt, hat der Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestags in der gesamten Wahlperiode nicht erfahren. Im Gegenteil: Das Interesse hat ständig abgenommen – vielleicht auch, weil viele im Untersuchungsgegenstand gar keinen so großen Skandal mehr sehen.
Die Abgeordneten wollen nämlich wissen, warum Merkels Regierung im Sommer 2021 so schlecht auf die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan vorbereitet war und deshalb so viele Einheimische im Stich gelassen wurden. Sie hatten der Bundeswehr, der Bundespolizei oder deutschen Entwicklungshelfern über viele Jahre zur Seite gestanden, galten als bedroht und sollten daher eigentlich nach Deutschland in Sicherheit gebracht werden. Gut drei Jahre später wird die öffentliche Debatte zu Afghanistan eher von Abschiebungen dorthin geprägt.
Die letzte Zeugin tritt auf
An diesem Donnerstagnachmittag, da der Untersuchungsausschuss erst den früheren Kanzleramtsminister Helge Braun und dann seine damalige Chefin Angela Merkel als letzte Zeugin vernimmt, geht es stark um deren möglicherweise zu passive Rolle im Zuständigkeitswirrwarr der Ministerien. Diesen Eindruck versucht Merkel gleich in ihrem Eingangsstatement zu zerstreuen.
Wir sind nicht morgens aufgestanden und haben schon dasselbe gedacht.
Angela Merkel über Meinungsverschiedenheiten ihrer Minister
Mehrfach berichtet sie, wie „unter meiner Leitung“ Gespräche mit Außenminister Heiko Maas (SPD), Entwicklungsminister Gerd Müller, Innenminister Horst Seehofer (beide CSU) und Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) als Verteidigungsministerin stattfanden. Es habe „Entscheidungsbedarfe“ gegeben und „in der Natur der Sache“ gelegen, dass die Ressorts „unterschiedliche Prioritätensetzungen“ hatten: „Wir sind nicht morgens aufgestanden und haben schon dasselbe gedacht.“
Als möglichen Beweis dafür, dass sie sich gekümmert hat, führt die Exkanzlerin ihre Unterstützung für eine Initiative Kramp-Karrenbauers an. Im Juli wurde der Kreis der afghanischen Helfer, die über das sogenannte Ortskräfteverfahren in die Bundesrepublik kommen dürften, deutlich ausgeweitet. Statt rückwirkend nur für zwei Jahre, erhielten fortan auch jene Dolmetscher oder Fahrer einen Anspruch, die seit 2013 für deutsche Regierungsstellen gearbeitet hatten. Merkel berichtet, wie am Rande der Kabinettssitzung vom 21. Juli 2021 auch über mögliche Charterflüge gesprochen wurde.
Frühere Kanzlerin sieht Fürsorgepflicht bis heute
Eine ihrer Kernaussagen betrifft „ein wirkliches Dilemma“, das Merkel beschreibt. Sie wusste von der Gefährdung der einheimischen Mitarbeiter für den Fall, dass die islamistische Terrormiliz nach dem Abzug der internationalen Truppen wieder die Macht an sich reißen würden – und empfand eine „Fürsorgepflicht“ für sie. Zugleich wollte sie durch eine Zusage an zu viele Afghaninnen und Afghanen, die für Entwicklungsorganisationen gearbeitet hatten, keinen falschen Eindruck vermitteln: „Ich wollte unbedingt das Signal vermeiden, dass wir einen Sieg der Taliban schon vorwegnähmen.“
Zum Zeitpunkt, als die Hauptstadt Kabul Mitte August dann tatsächlich fiel, standen Merkel zufolge etwa 11.400 Namen auf der Liste der berechtigten Ortskräfte. Schlussendlich flog die Bundeswehr in einer dramatischen Evakuierungsoperation 5437 Personen aus Afghanistan aus – freilich längst nicht alle von der Liste, die teils gar keine Chance mehr hatten nach Kabul zu kommen.
Die Altkanzlerin sagt im Ausschuss selbst, dass für die Vorbereitung auf diesen Ernstfall in den Ministerien „die zeitliche Dringlichkeit unterschiedlich eingeschätzt wurde“. Einige Ausschussmitglieder sind schon nach Helge Brauns Aussage irritiert gewesen, dass das schon im Herbst 2020 vom Bundesnachrichtendienst vorgetragene Szenario „Taliban 2.0“ offenbar nicht so ernst genommen wurde. Derselbe BND hielt es freilich lange für „eher unwahrscheinlich“.
Angela Merkel schreibt in ihren Memoiren selbst davon, dass das sogenannte Doha-Abkommen der US-Regierung mit den Taliban vom Februar 2020 das Schicksal des Landes „besiegelt“ habe. Vom Ausschussvorsitzenden Ralf Stegner (SPD) befragt, ob ihr das damals schon klar war und daher auch mehr getan hätte werden müssen, erklärt Merkel, dass sie „immer sorgenvoll“ gewesen sei.
Niemand aber habe damit rechnen können, dass Afghanistans damaliger Präsident sein Land verlassen würde und die eigentlich gut ausgebildete Armee keinen wirklichen Grund mehr zu kämpfen sah, als ihre politische Führung sie im Stich ließ: „Das Fazit kann ich erst im Nachhinein zeihen.“