Friday, December 27, 2024
„Bundesregierung lernt null aus ihren Fehlern“
WELT
„Bundesregierung lernt null aus ihren Fehlern“
Nicolas Walter • 5 Std. • 8 Minuten Lesezeit
Seit vier Jahren ist die deutsche Staatsbürgerin Nahid Taghavi in Haft des iranischen Regimes. Ihre Tochter Mariam Claren kämpft unermüdlich für die Freilassung. Sie wirft der Regierung Scholz ein fundamentales Versagen vor. Und die Union falle bislang nur durch „viele große Worte“ auf.
Mariam Claren kämpft seit mehr als vier Jahren für die Freilassung ihrer Mutter
Nahid Taghavi, Deutsch-Iranerin und Kölnerin, wurde im Oktober 2020 in ihrer Zweitwohnung in Teheran von der iranischen Revolutionsgarde verhaftet. Ein Jahr später verurteilte ein Gericht Taghavi wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer „illegalen Gruppe“ und „Propaganda gegen den Staat“ zu zehn Jahren und acht Monaten Haft. Experten sehen die 70-Jährige als Opfer der iranischen Geiseldiplomatie, bei der ausländische Staatsbürger gezielt als politisches Druckmittel inhaftiert werden. Taghavis Tochter Mariam Claren, 44, kämpft für ihre Freilassung.
WELT: Frau Claren, für Sie war es dieses Jahr das fünfte Weihnachtsfest in Folge ohne Ihre Mutter Nahid Taghavi, die im Iran in Haft sitzt. Ist die Weihnachtszeit für Sie eine besonders schwere Zeit?
Mariam Claren: Absolut. Es war das fünfte Mal, dass ihr Platz leer geblieben ist. Auch wenn wir als Deutsch-Iraner vielleicht nicht die klassische deutsche Familie sind, ist Weihnachten für uns ein besonderes Fest. Wir leben seit 1982 in Deutschland und haben immer die weihnachtliche Stimmung gemocht. Vor allem im ersten Jahr der Verhaftung meiner Mutter war es schlimm für unsere Familie. Irgendwann kommt dann eine Art Routine. Und jedes Jahr hoffen wir, dass es das letzte Weihnachten ohne sie sein wird.
WELT: Ihre Mutter befindet sich seit Ende September im sogenannten Hafturlaub. Während der Haftunterbrechung können Sie regelmäßig mit ihr telefonieren. Wie geht es ihr psychisch und körperlich?
Claren: Mental ist sie schon immer sehr stabil gewesen. Teilweise stabiler als meine Familie hier in Deutschland. Das ist bewundernswert. Körperlich ist es so, dass sie mehrfach Bandscheibenvorfälle hatte, sie hat das Karpaltunnelsyndrom, kann den rechten Arm nur schwer bewegen, und seit Neuestem hat sie auch Probleme mit ihrem Bein – wahrscheinlich verursacht durch die schwere Fußfessel, die sie tragen muss. Die vier Jahre Haft haben sich nicht gerade positiv auf ihre körperliche Verfassung ausgewirkt.
WELT: Wie sieht die Haftunterbrechung konkret aus?
Claren: Meine Mutter kann aktuell zu Ärzten gehen, darf ihre Wohnung dabei aber maximal 1000 Meter verlassen. Jeder Gang, der weiter ist, muss genehmigt werden. Alle zehn Stunden muss die Fußfessel für 90 Minuten aufgeladen werden. Im Großen und Ganzen sind wir froh, dass sie jetzt schon seit über zwei Monaten nicht im Gefängnis sitzt. Auf der anderen Seite sind wir besorgt, weil es jederzeit so weit sein kann, dass sie wieder zurückgebracht wird. Das ist schon bei den letzten zwei Haftunterbrechungen ohne Vorankündigung so geschehen.
WELT: Das Evin-Gefängnis im Iran gilt als berüchtigt. Ihre Mutter teilt sich dort eine Zelle mit der Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi. Wie kann man sich das Gefängnis und den Alltag dort vorstellen?
Claren: Man muss sich die Räumlichkeiten wie eine Art Trakt vorstellen. Es sind insgesamt vier Zimmer, in denen man sich frei bewegen kann. In jedem Zimmer befinden sich acht bis zehn Betten. In einem davon befindet sich meine Mutter mit Narges Mohammadi.
Meine Mutter liest viel und leitet mittlerweile die Gefängnis-Bibliothek mit über 2000 Büchern, die ehemalige Insassinnen dort hinterlassen haben. Sie hat Monate damit verbracht, Struktur in die Bibliothek reinzubringen. Im Gefängnishof kann man ansonsten auf- und ablaufen oder Yoga machen. Der Frauentrakt des Evin-Gefängnisses ist aber auch die Speerspitze des Widerstands. Immer dienstags sind viele Frauen im Hungerstreik, weil sie gegen die Hinrichtung von Inhaftierten protestieren. Oder aber sie machen einen Sitzstreik. Der Alltag besteht also aus einer Mischung aus Routine, Widerstand und Protest.
WELT: Lassen Sie uns auf die politischen Bemühungen blicken, die unternommen werden, um die Freilassung Ihrer Mutter zu erreichen. Sie sagen, Sie sind enttäuscht vom Auswärtigen Amt in Berlin. Warum?
Claren: Meine Mutter sitzt jetzt seit über vier Jahren in Haft. Mit Jamshid Sharmahd wurde im Oktober ein deutscher Staatsbürger im Iran getötet. Erst sprach das iranische Regime von einer Hinrichtung, dann soll es angeblich ein Schlaganfall gewesen sein. Im Ergebnis haben wir gesehen, wie das Vorgehen der Bundesregierung wirkt – nämlich gar nicht. Meine Mutter hat zwar kein Todesurteil, im iranischen Sprachgebrauch spricht man aber von einer Hinrichtung auf Raten. Ich kann ihnen unzählige Fälle nennen, in denen Gefangene im Iran wegen mangelnder medizinischer Versorgung in Haft gestorben sind.
WELT: Was kritisieren Sie konkret am Vorgehen der deutschen Politik?
Claren: Wir sehen, dass die Bundesregierung null aus ihren Fehlern lernt. Es wird einfach weitergemacht wie bisher. Wie sieht der weitere Plan für meine Mutter aus? Ich habe nicht den Eindruck, dass es jemals einen in Berlin gab. Geschweige denn, dass die Thematik in irgendeiner Form zur Chefsache gemacht worden ist. Ich bezweifle, dass der Bundeskanzler überhaupt weiß, wer meine Mutter ist. Jetzt kann man sagen, dass Olaf Scholz in zwei Monaten möglicherweise ohnehin nicht mehr Bundeskanzler sein wird, aber ich glaube, dass es eine grundsätzliche Systemproblematik ist.
WELT: Wie meinen Sie das?
Claren: Wenn ich mir die anderen europäischen Länder anschaue, haben fast alle ihre Staatsbürger aus iranischer Haft befreit. Großbritannien hat nur noch einen Häftling zu beklagen, die anderen sind befreit. Auch Belgien, Schweden, Dänemark oder Österreich haben fast alle befreit. In den vergangenen zwei Jahren wurden sechs französische Staatsbürger freigelassen. Emmanuel Macron stellt sich öffentlich hin und sagt, dass das Verhältnis zwischen Frankreich und dem Iran von der Freilassung der Geiseln abhängt. In Österreich gibt es eine Taskforce, die sich für die Freilassung von verhafteten Staatsbürgern im Ausland starkmacht. In Deutschland gibt es nichts.
WELT: Die Bundesregierung setzt bisher auf stille Diplomatie und befürchtet offensichtlich, dass zu viel Öffentlichkeit den Preis für die Freilassung in die Höhe treiben könnte.
Claren: Ich bin keine Diplomatin, aber die Fakten sind, dass eine 70-jährige Deutsche in Haft sitzt, deren Gesundheitszustand sich regelmäßig verschlechtert. Wir haben einen toten Deutschen, und wir haben wahrscheinlich noch eine Handvoll weiterer Deutscher, deren Fälle öffentlich nicht bekannt sind. Die Bundesregierung muss doch so langsam mal verstehen, dass sie mit ihrer Art von Diplomatie scheitert.
WELT: Als Ihre Mutter 2020 verhaftet wurde, war Heiko Maas (SPD) Außenminister. Können Sie einen Unterschied im Bemühen um die Freilassung Ihrer Mutter zwischen ihm und Annalena Baerbock (Grüne) erkennen?
Claren: Heiko Maas war hochgradig ignorant. Ich weiß nicht, wie viele Briefe ich an ihn geschrieben habe. Es kam nie etwas zurück. Bei Annalena Baerbock kam immerhin eine Antwort zurück. Ich erkenne bei ihr ein bisschen mehr Konsequenz als bei Heiko Maas. Aber leider hat auch sie noch nie öffentlich die Freilassung meiner Mutter verlangt. Es macht einen Unterschied, wenn du die Person benennst. Es macht einen Unterschied, wenn man öffentlich die Freilassung fordert. Ich bin bereit, mich eines Besseren belehren zu lassen, das dem nicht so ist, aber nach mehr als vier Jahren scheint eher die Bundesregierung falsch zu liegen.
WELT: CDU-Chef Friedrich Merz war politischer Pate von Jamshid Sharmahd. Haben Sie Hoffnung, dass sich mit ihm als möglichem nächsten Bundeskanzler im Fall Ihrer Mutter etwas ändert?
Claren: Hoffnung ist vielleicht ein bisschen ein zu romantisches Wort. Ich bin aber gespannt darauf, was er macht. Am Ende messen wir Politiker an ihren Erfolgen, nicht an ihren Worten. Und wenn ich mir die Worte der Union und von Friedrich Merz anschaue, waren das bei den Themen Iran und inhaftierte Deutsche in den vergangenen Jahren viele große Worte. Ich erwarte, dass er, sofern er Bundeskanzler wird, seinen Worten dann auch Taten folgen lässt.
WELT: Wie haben Sie Ende Oktober die Nachricht von der Hinrichtung von Jamshid Sharmahd erlebt?
Claren: Tatsächlich hat mir das den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich habe die Nachricht direkt auf dem X-Kanal des iranischen Justizministeriums gesehen. Ich habe gedacht, ich lese nicht richtig. Das Schlimmste war dann, dass ich seine Tochter Gazelle Sharmahd in den USA anrufen musste. Ich wollte nicht, dass sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters durch die Presse erfährt.
WELT: Wie verlief das Telefonat?
Claren: Es war schlimm. Sie ist ans Telefon gegangen und hatte Sekunden zuvor schon eine Beileidsnachricht auf ihrem Handy gesehen. Sie ging dran und sagte nur: „Nein, nein, nein.“ Ich habe ihr gesagt, dass es mir so leidtut. Dann hat sie mich gefragt, ob er umgebracht wurde. Ich musste bejahen. Das war furchtbar.
WELT: Stehen Sie noch in Kontakt?
Claren: Ja, regelmäßig. Sie kämpft aktuell darum, dass sie den Leichnam ihres Vaters bekommt. Und sie unterstützt mich bei meiner Petition, mit der wir Maßnahmen des Bundeskanzleramts zur Befreiung der in Iran zu Unrecht inhaftierten Deutschen fordern. Erreicht die Petition bis zum 14. Januar 30.000 Unterschriften, wird sie im nächsten Schritt in einer öffentlichen Sitzung dem Petitionsausschuss vorgestellt und diskutiert.
WELT: Wenn Sie über die Gesamtsituation und die Haft Ihrer Mutter sprechen, klingen Sie äußerst abgeklärt. Was macht denn die Situationen mit Ihnen selbst?
Claren: Ich habe gelernt, das öffentliches hysterisches Schreien oder komplette emotionale Ausbrüche zu nichts führen. Ich bin auch immer respektvoll gegenüber dem Auswärtigen Amt und versuche, ein sachliches Gesamtbild darzustellen. Aber natürlich gibt es auch die nicht öffentliche Person von mir. Die Mariam Claren, die die Krise kriegt und unfair gegenüber ihrem privaten Umfeld ist. Ich will ehrlich sein, ich habe erst vorgestern einen Heulkrampf bekommen, weil ich es nicht wahrhaben wollte, dass unsere Petition bisher so wenige Unterschriften bekommen hat. Da gibt es natürlich die Momente, in denen ich keine Lust mehr habe, weil einfach alles so unfassbar anstrengend ist.
Meine Mutter ist jetzt 70. Wie viel Zeit habe ich noch mit ihr? Das ist teilweise sehr schwer zu ertragen und macht mich wütend. Ich glaube aber auch, dass ich die volle Belastung erst dann bemerke, wenn alles vorbei ist. Wenn ich nicht mehr jeden Morgen zuerst an die Situation meiner Mutter denken muss. Und das ist auch für meine Mutter eine Belastung, wenn sie sieht, wie ihre Familie leidet.
WELT: Was wünschen Sie sich von Menschen, die die Geschichte Ihrer Mutter hören?
Claren: Ich würde mich darüber freuen, wenn unsere Petition unterschrieben wird. Das nimmt nicht viel Zeit in Anspruch, kann aber eine große Wirkung haben. Unabhängig davon würde ich mir wünschen, dass wir das Schicksal von politischen Gefangenen im Ausland mehr thematisieren. Wir alle haben die Bilder der befreiten Gefangenen in Syrien gesehen. Eine Stunde entfernt liegt der Iran, dort findet seit 45 Jahren dasselbe statt. All jene, die diese Bilder bewegt haben, können dafür sorgen, dass es eine Solidarität für die Menschen im Iran und als Folge auch eine Wende in der deutschen Iran-Politik gibt. Das kann beispielsweise über soziale Medien geschehen oder über eine Vernetzung mit der iranischen Diaspora in Deutschland.
WELT: Gibt es in Ihrer Vorstellung etwas, was Sie gerne als Erstes mit Ihrer Mutter unternehmen würden, sobald sie freikommt?
Claren: Ich versuche nicht zu viel über diesen Moment nachzudenken, weil ich Angst habe, mir falsche Hoffnungen zu machen. Aber, worüber ich schon mal nachgedacht habe, ist der Moment am Flughafen, wenn wir sie endlich in die Arme schließen können. Diese Bilder habe ich schon oft von anderen betroffenen Familien gesehen. Das sind tolle Szenen. Aber darüber hinaus will ich mir keine Gedanken machen.