Thursday, November 28, 2024
„Kretschmann opfert elementare kulturelle Errungenschaften auf dem Altar des Tech-Populismus“
WELT
„Kretschmann opfert elementare kulturelle Errungenschaften auf dem Altar des Tech-Populismus“
Sabine Menkens • 3 Std. • 2 Minuten Lesezeit
Ist das Erlernen einer zweiten Fremdsprache unnötig, weil Künstliche Intelligenz inzwischen das Übersetzen übernehmen kann? Ein Vorstoß von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sorgt beim Gymnasiallehrern für Entsetzen.
Der Deutsche Philologenverband hat empört auf die von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ins Spiel gebrachte Abschaffung der zweiten verpflichtenden Fremdsprache reagiert. „Wer die Grundlagen einer anderen Sprache, einer anderen Kultur nicht kennt, den führt das reine Verwenden von digitalen Medien letztlich dazu, dass er von diesen abhängig ist – das hat mit Medienkompetenz rein gar nichts zu tun“, sagt die Vorsitzende Susanne Lin-Klitzing.
Der Philologenverband reagierte damit auf einen Vorstoß Kretschmanns auf dem Medienpolitischen Kongress „Source“ in Stuttgart vor zwei Wochen. Der grüne Ministerpräsident hatte dort das Streichen der verpflichtenden zweiten Fremdsprache ins Gespräch gebracht, um dafür ein Schulfach „Digitale Medienkompetenz“ einzuführen. Das Beherrschen von Fremdsprachen sei heute nicht mehr nötig, hatte Kretschmann dort gesagt. „Ich stecke mir einen Knopf ins Ohr und mein Telefon übersetzt – egal ob mein Gegenüber Spanisch, Polnisch oder Kisuaheli spricht.“
Bereits im Frühjahr hatte der ehemalige Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Ethik eine kontroverse Debatte ausgelöst, als er in einem „Zeit“-Interview fragte, ob Kinder und Jugendliche die deutsche Rechtschreibung noch beherrschen müssten, wenn Computer- und Handyprogramme Fehler ohnehin automatisch korrigierten.
Aus Sicht des Philologenverbandes erliegt Kretschmann damit zum wiederholten Male „dem Irrglauben, dass KI wesentliche Kulturtechniken ersetzen könne“. „Winfried Kretschmann opfert elementare kulturelle Errungenschaften auf dem Altar des Tech-Populismus“, kritisierte Lin-Klitzing. „Wer das Verständnis einer Fremdsprache, einer anderen Kultur, eines anderen Menschen auf einen ‚Knopf im Ohr‘ reduziert, hat das Konzept der Verständigung nicht begriffen.“
Eine gelungene Kommunikation mit anderssprachigen Menschen zeichne sich durch mehr aus als durch das bloße Übersetzen einfacher Sätze. „Hier wird ‚Verständigung‘ zum stumpfen ‚Verständlich-Machen‘ degradiert.“ Die Möglichkeiten der KI seien zwar erstaunlich und hilfreich, könnten aber die eigene Lernleistung und die Freude am persönlichen Fortschritt nicht ersetzen.
Der Philologenverband setze sich mit Vehemenz für den Erwerb mehrerer Fremdsprachen am Gymnasium ein, so die Verbandsvorsitzende. „Deutschlands Geschichte verpflichtet uns zum respektvollen Umgang mit anderen Kulturen. Wenn Europa, wenn Völkerverständigung gelingen soll, braucht es bei jedem Einzelnen den Blick über den eigenen Horizont hinaus. Gerade dafür bietet das Erlernen von Fremdsprache enorme Möglichkeiten.“ Dieses Potenzial aus der Schule zu verbannen, auch aus dem profanen Grund, um Stunden für ein neu geschaffenes Verbundfach zu gewinnen, zeuge von „erschreckender Kurzsichtigkeit“.
Politikredakteurin Sabine Menkens ist bei WELT zuständig für die Themen Familien-, Gesellschafts- und Bildungspolitik.