Sunday, July 21, 2024
Analyse von Ulrich Reitz - Der halbe Rückzug Bidens wirkt wie ein Misstrauensvotum für seine Stellvertreterin Harris
Analyse von Ulrich Reitz - Der halbe Rückzug Bidens wirkt wie ein Misstrauensvotum für seine Stellvertreterin Harris
FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz • 2 Std. • 4 Minuten Lesezeit
Joe Biden verzichtet auf eine erneute Kandidatur
Joe Bidens Verzicht ist nur ein halber: Würde ihm wirklich an Kamala Harris liegen, hätte er den Präsidentenstuhl für sie geräumt. Berlin ist einstweilen erleichtert. Das könnte sich rächen.
Joe Bidens Rückzug aus dem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf ist nur ein halber, deshalb ist dieser Schachzug – sein letzter – auch nur halb gelungen. Ob er ausreicht, um seiner Stellvertreterin gegen den schier übermächtig erscheinenden Donald Trump zum mächtigsten Staatsamt der Welt zu verhelfen, steht dahin.
Biden kann einfach nicht mehr, er ist völlig fertig. Alle haben es gesehen, er selbst zuletzt. Das ist seine besondere, ganz persönliche Tragik am Ende eines unvergleichlich langen politischen Lebens. Biden musste von seinen Partei-„Freunden“ beinahe gewaltsam aus dem Amt gedrängt werden.
Zuletzt hatte er keinen der Mächtigen im Partei-Establishment mehr an seiner Seite. Vor allem nicht seinen ehemaligen Präsidenten Barack Obama. Der übernahm zu schlechter Letzt die undankbare Rolle des Königsmörders – der wird zwar gehasst, aber vor allem wird er gebraucht.
Kamal Harris' unglückliche Vize-Präsidentschaft
Zunächst: Hätte Joe Biden Kamal Harris wirklich helfen wollen, er hätte es längst schon tun können. Die amerikanische Verfassung billigt dem Vizepräsidenten nur eine Rolle eindeutig zu: den Amtsinhaber unmittelbar zu ersetzen, damit die große Nation nicht führungslos bleibt. Alles andere bleibt offen. Kamal Harris' unglückliche Vize-Präsidentschaft fing also damit an, dass ihr Biden keine Aufgabe von Belang gab, nichts, womit sie sich wirklich hätte als Ersatz-Nummer Eins profilieren können.
Harris hat kein wirkliches Profil jenseits soziologischer Zuweisungen – Frau, farbig, eher vom linken Flügel. Zu Bidens Leistungen der vergangenen Jahre zählt, die erratischen Demokraten zusammengehalten zu haben. Der Beitrag von Harris dabei ging gegen Null. Man wird sehen, ob sie die Demokraten hinter sich bringen kann. Denn auch in den USA wird der Kandidat einer zerstrittenen Partei nicht gewählt.
Damit nicht genug: Fair wäre es gewesen, der Präsident wäre gleich an diesem Sonntag zurückgetreten – und hätte Harris den Präsidentenstuhl im Oval Office überlassen. So aber wirkt der halbe Rückzug Bidens fast schon wie ein Misstrauensvotum des scheidenden Präsidenten für seine Stellvertreterin. Mehr als das:
Halber Rückzug Bidens wirkt wie ein Misstrauensvotum für seine Stellvertreterin Harris
Auch wenn jetzt „Has-Beens“ mit großem Nimbus wie die Clintons Biden über die Maßen loben und sich für Harris aussprechen – noch ist nicht klar, was bei den Demokraten jetzt passieren wird. Harris ist keine starke Kandidatin, muss Profil erst noch gewinnen und hat auch kein starkes Wort in die demokratische Partei hinein. Gut möglich, dass ihr noch gestandene Senatoren mit einem innerparteilich guten Ruf die Präsidentschaftskandidatur streitig machen.
Noch einmal zu Joe Biden. Um Legenden vorzubeugen: Sein (halber) Rückzug hat nichts, aber auch gar nichts zu tun mit Altersdiskriminierung. Biden ist vielmehr ein trauriger Beweis dafür, dass das Alter selbst zur Diskriminierung werden kann – und, bei uns allen, auch werden wird.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Biden ein trauriger Fall von Altersstarrsinn in eigener Sache geworden ist. Jeder Kandidat, der für die Dauer einer Legislaturperiode gewählt wird, muss versprechen können, sein Amt gesundheitlich fit bis zum letzten Tag ausüben zu können. War Biden tatsächlich so verblendet zu glauben, sein Körper erlaube ihm noch einmal vier volle Jahre in einem Amt, in dem man Herr ist über den Atomkoffer, mit dem man die ganze Welt in ein Armageddon verwandeln kann?
Auch Scholz hat den Eindruck erweckt, der US-Präsident sei noch voll und ganz Herr der Lage
Teil der Tragödie – und der Irreführung der Öffentlichkeit – sind jene, die an einem offenkundig falschen Bild von der Fitness des amerikanischen Präsidenten mitgewirkt haben. Olaf Scholz gehörte leider mit dazu, auch der deutsche Kanzler hat den Eindruck erweckt, der US-Präsident sei noch voll und ganz Herr der Lage. Das sagte Scholz noch zu einem Zeitpunkt, als Biden dies ganz sicher nicht mehr war.
Nun werden die Karten im US-Wahlkampf neu gemischt. Donald Trump tat, was er besonders gut kann: er verbreitete gleich einmal üble Laune. Er stempelte Biden zum Lügenpräsidenten. Nur: Entscheidend ist nicht, was wir hier in Deutschland über so etwas denken, auch nicht wir Journalisten. Entscheidend ist, wie den amerikanischen Wählern so etwas gefällt. Und mit derlei Rüpeleien hat Trump damals eben auch schon Hillary Clinton geschlagen.
Vorsichtig muss man auch sein bei den amerikanischen Umfragen. Ob Trump und Harris bei amerikaweiten Zahlen Kopf an Kopf liegen, mag interessant sein. Entscheidend aber ist etwas anderes: Wie es in den „Swing states“ aussieht, jener Handvoll Staaten, in denen die US-Wahlen am Ende wirklich entschieden werden.
Ampelregierung empfindet Bidens Rückzug als Glücksfall
Die Ampelregierung in Berlin empfindet Bidens Rückzug aus dem US-Wahlkampf als Glücksfall. Olaf Scholz und sein Team haben mit Donald Trump nichts zu schaffen, wenn sie könnten, würden sie alles tun, um diesen Mann aus dem Zentrum der Macht fernzuhalten. Diesen Reflex hat Scholz übrigens nicht alleine – Angela Merkel dachte auch nicht anders über den alten, weißen, blonden Halbstarken.
In den nächsten 24 Stunden werden wir also erleben, wie vor allem SPD- und Grünen-Politiker Biden für seine Amtszeit loben und für die aus ihrer Sicht generöse Weisheit, das Rennen ums Weiße Haus „freiwillig“ zu verlassen. Nun – es war nicht freiwillig. Und den größten Gefallen, glauben sie in Berlin, hat er damit ihnen getan.
Am Ende könnten sie ihre Rechnung ohne ihn gemacht haben: Donald Trump, den Mann mit dem beängstigend animalischen Instinkt.