Monday, November 7, 2022

Großbritannien: Die Versprechungen des Brexits sind zur Farce verkommen

Zeit-online Großbritannien: Die Versprechungen des Brexits sind zur Farce verkommen Bettina Schulz - Gestern um 16:57 Großbritanniens Finanzlage ist katastrophal. Die neue Regierung muss Investitionen stoppen und kündigt schon mal an: Es wird hart. Die Briten und Britinnen spüren zunehmend die Inflation und ökonomische Unsicherheit. Dem neuen britischen Premierminister Rishi Sunak und seinem Schatzkanzler Jeremy Hunt bleiben mal gerade zehn Tage Zeit. In diesen zehn Tagen müssen die beiden derzeit wichtigsten Regierungsmitglieder Großbritanniens in akribischer Detailarbeit ausrechnen, wie sie das klaffende Haushaltsdefizit ausgleichen können. Die Entscheidung, welche Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen sie verfügen werden, muss schnell fallen. Am 17. November soll Hunt die Haushaltsrechnung öffentlich vorlegen. Das unabhängige Amt für verantwortliche Haushaltsführung, das OBR, wird einen Prüfungsbericht über den Haushalt vorlegen. Im selben Moment werden die Notenbanken der Welt und die Investoren an den internationalen Kapitalmärkten entscheiden, ob Großbritannien wieder den Weg zurück zu einer verantwortlichen Fiskalpolitik eingeschlagen hat. Im September hatte die britische Regierung von Liz Truss daran Zweifel aufkommen lassen. Truss und ihr Schatzkanzler Kwasi Kwarteng hatten Steuersenkungen und ein Energiehilfsprogramm verkündet, ohne eine Gegenfinanzierung zu präsentieren. Die Kapitalmärkte brummten Großbritannien umgehend eine Risikoprämie höherer Renditen auf, um sich das Risiko der irrationalen Fiskalpolitik bezahlen zu lassen. Das zwang die Bank von England wiederum, am Kapitalmarkt einzugreifen, um die Branche der britischen Pensionskassen "nur wenige Stunden vor ihrer Insolvenz" zu bewahren, wie Andrew Bailey, Notenbankgouverneur der Bank von England, mittlerweile einräumte. Auf der IWF- und Weltbanktagung in Washington, D. C. betonte Bailey: "Ich kann den Kapitalmärkten nach Gesprächen mit dem Schatzkanzler Jeremy Hunt versichern, dass wir in Bezug auf Stabilität und verlässlicher Fiskalpolitik an einem Strang ziehen und umgehend Maßnahmen getroffen werden, die das zeigen werden." Schlechte Ausgangslage Um diese Maßnahmen geht es in den kommenden zehn Tagen. Die Ausgangslage nach dem sogenannten Minihaushalt der Regierung Truss ist denkbar schlecht: Ihre Maßnahmen hätten die Neuverschuldung in diesem Jahr von 99 auf 190 Milliarden Pfund steigen lassen, errechnete das Institute for Fiscal Studies. Selbst im Fiskaljahr 2026/27 hätte die Verschuldung mit 114 Milliarden fast viermal so hoch gelegen wie vom OBR prognostiziert (32 Milliarden Pfund). Steuersenkungen von 45 Milliarden Pfund und das Energieprogramm rissen eine Lücke in den Haushalt, die selbst im Jahr 2026/27 noch 72 Milliarden Pfund betragen hätte – eine unhaltbare Position. Hunt reduzierte diese Finanzlücke sofort nach seiner Berufung als Schatzkanzler: Die Erhöhung der Körperschaftsteuer von 19 auf 25 Prozent wird – anders als von Kwarteng verkündet – nun doch durchgezogen. Dies senkt das Finanzloch jährlich um etwa 16 Milliarden Pfund. Die von Kwarteng geplante Senkung des Einkommensteuersatzes von 20 auf 19 Prozent wird es vorläufig nicht geben, was den Haushalt jährlich um fünf Milliarden Pfund entlastet. Gleichzeitig wird das Energiehilfspaket Anfang kommenden Jahres überprüft. Trotzdem bleibt eine Lücke, weil Hunt die von Kwarteng verkündete Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge von 16 Milliarden Pfund im Jahr und die Senkung der Stempelsteuer am Immobilienmarkt nicht mehr aufhalten konnte. Erwartet wird nun, dass Hunt die Steuerfreibeträge nicht erhöhen wird. Bei der Inflation, die bis Ende des Jahres auf elf Prozent steigen soll, ist das für viele keine gute Nachricht. Gleichzeitig werden alle Ministerien aufgefordert, Ausgaben zu streichen. "Der Staat kann nicht immer für alle Probleme herhalten", verkündete Sunak in einem Interview mit der Tageszeitung The Times am Samstag. Es müsse gespart werden. Das werde hart. Aber die Regierung werde für Gerechtigkeit und Mitgefühl sorgen. Das können die Briten gebrauchen. Bisher war das Wetter zwar mild und die Probleme der hohen Heizkosten daher weniger akut als befürchtet. Aber nach Angaben der Bank von England steckt das Vereinigte Königreich in einer Rezession, die bis Ende nächsten Jahres anhalten wird. Das bringe für alle, sowohl für Haushalte als auch für Unternehmen, "ernste Herausforderungen", warnte Bailey vergangene Woche. Die Arbeitslosenquote werde steigen und die Inflation erst im kommenden Jahr – dann aber vielleicht deutlich – zurückgehen. Um die Preissteigerungen zu bekämpfen, erhöhte die Bank von England vergangene Woche die Zinsen um 0,75 Prozentpunkte auf drei Prozent, die schärfste Zinserhöhung seit 30 Jahren. Dies bedeutet für Hunderttausende Haushalte und Unternehmen höhere Hypotheken- und Kreditzinsen. Der Schritt ist nicht unumstritten, da nun die Geldpolitik und die Fiskalpolitik gleichzeitig restriktiv auf die Volkswirtschaft wirken. Die Regierung hat kaum noch Spielraum für Investitionen in die Infrastruktur Bailey betonte, dass die Notenbank ihre Zinsentscheidung vor dem Haushalt habe fällen müssen, der am 17. November verkündet wird. Je nachdem, wie scharf die Steuererhöhungen und Ausgabensenkungen der Regierung ausfallen werden, wird die Bank von England mit ihrer Geldpolitik reagieren. Bailey sagte, dass die Märkte unter dem Eindruck der Pläne von Truss weitere Zinserhöhungen einplanten, die vielleicht nicht unbedingt kommen müssten. Die Bank von England werde im Dezember neu entscheiden. Zahlreiche Volkswirte in der Londoner City gehen davon aus, dass die Bank von England die Zinsen nicht wesentlich höher als drei Prozent wird anheben müssen, es sei denn, die Inflation zeige sich hartnäckiger als derzeit erwartet. Das Problem für die Regierung: Sie hat nun kaum noch Spielraum für Investitionen in die Infrastruktur. Die Baupläne der Hochgeschwindigkeitstrassen und Schienennetze, die den Norden Englands vernetzen und mit London verbinden sollten, werden immer weiter zurück gestutzt. Selbst der Bau neuer Kernkraftwerke wird überprüft. Die Investitionen in den Gesundheitssektor und den Pflegesektor, die mit der allgemeinen Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden sollten, finden nun ebenfalls nicht statt. All die Versprechungen, dass dem Land nach dem Brexit eine starke Wirtschaft, niedrigere Preise und höhere Löhne beschert würden, haben sich als Farce erwiesen. Das stellt Sunak vor zwei Probleme: Er muss das Sparprogramm von seinen Abgeordneten absegnen lassen, die in ihren Wahlkreisen um ihre Stimmen fürchten. Und in zwei Jahren, wenn Sunak die Unterhauswahl gewinnen will, wird er wohl nur eine magere Bilanz vorlegen können. Aber sein geschäftsmäßiges und entschiedenes Auftreten kommen im Land gut an. Nach einer Umfrage der Analysegesellschaft YouGov wirkt der Oppositionsführer Keir Starmer zwar ehrlicher und authentischer. Aber Sunak wirkt in den Augen der Öffentlichkeit in Wirtschaftsfragen kompetenter und entscheidungsfreudiger. Da hilft zumindest, wenn die Notenbanken und Kapitalmärkte wieder Vertrauen in die britische Fiskalpolitik aufbauen sollen.