Thursday, April 28, 2022

Aufzeichnungen aus dem Martyrium eines an Syphilis erkrankten Dichters

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Aufzeichnungen aus dem Martyrium eines an Syphilis erkrankten Dichters Alain Claude Sulzer - Vor 8 Std. «Daudet ist ein schöner Bursche mit langem Haar und dem Aussehen eines Tenors aus dem Süden.» Was Edmond de Goncourt im Juni 1874 über seinen damals vierunddreissigjährigen Freund Alphonse Daudet im Tagebuch notierte, traf desto weniger zu, je deutlicher sich die Symptome der Syphilisinfektion manifestierten, die sich Daudet als junger Mann bei einer Vorleserin der Kaiserin Eugénie geholt hatte. Die Krankheit brach Anfang der 1880er Jahre aus. Anders als Edmond de Goncourts Bruder Jules litt Alphonse Daudet nach einer zwei Jahrzehnte dauernden Latenzzeit vor allem an schleichendem Funktionsverlust des Rückenmarks, einer von mehreren möglichen Erscheinungsformen der Krankheit. Ohne Frage ein «schöner Bursche»: der Schriftsteller Alphonse Daudet (1840–1897) Im Gegensatz zu Jules de Goncourt beeinträchtigten ihn weder Sprachstörungen noch Demenz, doch die anhaltenden körperlichen Leiden verliessen ihn bis zu seinem Tod 1897 nicht mehr. Ihn peinigten unbeschreibliche Schmerzen in den Extremitäten («Beine wie aus schmerzendem Stein» – «Spitze Rattenzähne, an den Zehen nagend»), zugleich verlor er zusehends die Herrschaft über die Koordination von Armen und Beinen («Die Beine verheddern sich, die ausgestreckten Arme suchen Halt»). Seine Glieder bewegten sich zuckend und unkontrolliert, er musste gestützt oder im Rollstuhl geschoben werden; wenn er allein war, hatte er oft keine andere Wahl, als sich auf dem Hintern vorwärts zu bewegen. Er schrieb über alles Daudet war tatsächlich ein hübscher Bursche gewesen, seine Jugendfotos lassen keinen Zweifel daran. Um sein dichtes dunkles Haar beneideten ihn gewiss nicht nur Tenöre und andere Männer, sondern wohl auch etliche jener Frauen, die sich auf den Mann einliessen, der diese Mähne selbstsicher trug. Daudet war, was man einen Schürzenjäger nannte, und die wohl wildeste seiner vielen Affären wurde Gegenstand des Romans «Sapho» (1884), der von seiner Beziehung zum Malermodell Marie Rieu handelte. Zum Leidwesen seiner Frau Julia im Übrigen, die zugleich seine (ungenannte) literarische Mitarbeiterin war, bei diesem Roman jedoch auf eine Mitwirkung verzichtete. Dass sich Daudet von Marie getrennt hatte, bevor er die Ehe mit Julia einging, bedeutete übrigens nicht, dass er nach der Heirat sein promiskuitives Liebesleben beendet oder auch nur eingeschränkt hätte. Einen Schlussstrich unter diese nicht nur in Künstlerkreisen von den Ehefrauen stillschweigend geduldeten ausserehelichen Ab- und Ausschweifungen setzte erst die fortgeschrittene Syphilis. Autobiografisches «Material» hatte Alphonse Daudet bereits vor «Sapho» mit offenerem Visier als andere Schriftsteller behandelt; persönliche Kränkungen literarisch zu verwerten, fiel ihm nicht schwer. Er betrachtete es als Raison d’Être des Künstlers, über alles zu schreiben, was das Leben bereithielt. Schon sein erster Roman, «Le petit chose» (Der kleine Dingsda), handelte – in der dritten Person geschrieben – von seinen leidvollen Erfahrungen als Kind verarmter Eltern, die aufgrund des väterlichen Ruins das sonnige Nîmes für immer verlassen und gegen das triste Lyon eintauschen mussten. Am Ufer der Rhone hauste die Familie in einer Wohnung, in der die Feuchtigkeit ungehindert von allem Besitz ergreifen konnte. Im Gegensatz zu anderen bürgerlichen Romanciers seiner Zeit, die sich, wie etwa Zola, durchaus für die «kleinen Leute» interessierten, hatte Daudet die Armut und ihre vielfältigen Konsequenzen am eigenen Leib erfahren. Es waren nicht zuletzt diese Erlebnisse, die seine lebenslängliche Sehnsucht nach dem Licht, den Menschen und der Sprache der Provence bildeten. Im Kerker eingesperrt Auch wenn er Okzitanisch weit weniger gut beherrschte als sein Freund und früher Förderer Frédéric Mistral, der diese Sprache als Bestandteil der französischen Literatur betrachtete, begleitete sie den längst in Paris Ansässigen doch ständig. Vor allem aber inspirierte ihn der Süden zu seinen erfolgreichsten Büchern, «Lettres de mon moulin» und die drei Bände über «Tartarin de Tarascon», die ihn in Frankreich unsterblich machten. Es lag nahe, über das zu schreiben, was Daudets Leben siebzehn Jahre lang bis zu seinem Tod stärker beeinflussen sollte als sonst etwas. Der Schmerz war immer da, er ruhte nie, er liess auch beim Schreiben nicht nach: «Überallhin dringt der Schmerz vor, in meine Wahrnehmung, meine Gefühle, mein Urteilsvermögen: eine Infiltration.» Er versuchte sich darauf einzustellen, dass es «für immer» war, und schrieb «von Zeit zu Zeit diese Notizen mit der Spitze eines Nagels und einigen Tropfen» seines Blutes an die Wände seines «carcero duro». Eingesperrt im «harten Kerker», wie es in seinen Aufzeichnungen heisst, hatte er oft den Eindruck, nicht mehr gesehen zu werden, und dies, obwohl er etwa während seiner Badekuren in Lamalou viel Mitgefühl für andere Patienten zeigte, die er aufzumuntern pflegte, obgleich er selbst bedürftig war. Sein Plan, nicht nur privat über den Schmerz zu schreiben, gegen den die damals gängigen Mittel Laudanum, Morphium, Brom und Chloral nur kurzfristig halfen, stand für Daudet fest, kaum war die Syphilis ausgebrochen. Also begann er, sich Notizen für einen Roman zu machen. 1888 schien er, laut Goncourt, das formale Problem gelöst zu haben, wie dies zu bewerkstelligen sei. Geschrieben wurde der Roman aber nicht. Erhalten blieben hingegen die Notizen, ein dokumentarisches Fragment mit philosophischem Tiefgang: Wie existiert man mit dem Unerträglichen, das einen dazu zwingt, «wie ein Maulwurf unter der Erde zu leben, allein, ganz allein»? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, vom Gedanken an Selbstmord zur Tat zu schreiten? Dass er bei der Niederschrift stets seinen kühlen Kopf bewahrte, gehört zu den Wundern dieser Eintragungen aus dem «Land der Schmerzen», aus dem es kein Entkommen gab. Dass sich daraus kein tragbares Handlungsgerüst für ein erzählerisches Werk ergeben wollte, lag wohl daran, dass es dem Gegenstand an Glanz fehlte: «Die Notiz, die ich hier aufs Papier werfe, nichtssagend und glanzlos, ein Selbstgespräch, geschrieben während einer dieser grausamen Anfälle.» Was erst 1930, zehn Jahre vor dem Tod Julia Daudets, die ihren Mann um vierzig Jahre überlebte, aus dem Nachlass erschien, sind also Vorstudien zu einem Werk, das nicht geschrieben werden konnte. Und das nun in einer Neuausgabe auch auf Deutsch wieder vorliegt, mit der Einleitung und den Kommentaren von Julian Barnes (Alexander-Verlag, 124 S., Fr. 25.90). Allein mit dem Schmerz Wir kennen die wahren Beweggründe nicht, warum Daudet diesen Roman nie schrieb. An physischer Entkräftung kann es nicht gelegen haben, denn trotz dem angegriffenen Gesundheitszustand schrieb Daudet bis zu seinem Tod noch etliche Bücher und Theaterstücke. Vielleicht musste er einfach einsehen, dass er seine ihm treuen Leserinnen und Leser nicht für die Dauer eines ganzen Romans mit dem behelligen durfte, was an ihm zehrte. Was er darüber zu berichten hatte, war als verkäuflicher Stoff ungeeignet. Dass Literatur auch Unterhaltung sein musste, wenn sie sich verkaufen wollte, wusste Daudet als erfolgsverwöhnter und von manchen Kollegen (und auch Freunden wie Goncourt) beneideter Autor gut genug. Sein Schmerz war unveräusserlich. Er eignete sich nicht für ein breites Publikum. Es existierte keine «allgemeine Theorie vom Schmerz. Jeder Patient legt sich seine eigene zurecht, und das Übel verändert die Tonlage, wie die Stimme eines Sängers, je nach der Akustik des Saals.» Es gab für den Schriftsteller keine Handhabe, für eine Lesergemeinschaft zu schreiben, die sich über seine Gebrechen hätte verständigen können. Er war damit allein. Als Leidender von den anderen Mitleid zu heischen, war ihm zuwider; er verbat es sich selbst im Familienkreis. Selbstfindung durch Schreiben war im 19. Jahrhundert noch nicht die anerkannte und beliebte literarische Kategorie, die sie heute ist. Der Titel für das versäumte Buch stand von Anfang an fest. Was auch immer aus der Absicht werden würde, das Ergebnis sollte «La doulou» heissen. Kein anderes als das provenzalische Wort für Schmerz («douleur») schien Alphonse Daudet treffender und sprechender für das, was ihn, der im «Land der Schmerzen» heimisch geworden war, auf sich selbst zurückgeworfen hatte – und was er stoisch ertrug. Eine Wahl hatte er nicht.