Saturday, February 26, 2022

Ukraine: Putin kennt die Ukraine nicht

ZEIT ONLINE Ukraine: Putin kennt die Ukraine nicht Susann Worschech - Gestern um 13:11 Die Ukraine ist nicht mehr dieselbe wie 2014. Wladimir Putins Versuch, das Land einer ihm genehmen Regierung zu unterwerfen, zeigt nur, wie wenig er davon verstanden hat. Was wir die Euromaidan-Proteste nennen, heißt bei den Ukrainern die "Revolution der Würde". Es ist kein Zufall, dass der Angriff Russlands fast auf den Tag genau acht Jahre nach dem erfolgreichen Ende dieser Volkserhebung stattfand, jenem Tag also, an dem die EU die Absetzung des kleptokratischen Präsidenten Viktor Janukowitsch durch das ukrainische Parlament anerkannte. Putins Zahlensymbolik ist eindeutig: Er will das Ende dieser Würde. Er will Demokratie und Selbstbestimmung in der Ukraine wegbomben. Aber so mächtig Putins Armee auch ist, so vergleichsweise leicht es für sie vielleicht wird, die Ukraine militärisch zu besetzen und eine ihm genehme Regierung zu installieren, zeigt seine unbändige Aggressivität auch, dass er das Land, das er Russland endlich wieder unterwerfen will, nicht mehr versteht. Die Eroberung mag relativ schnell vorangehen, aber wenn Putin denkt, dass sich das Land auch ohne Weiteres langfristig kontrollieren lässt, unterschätzt er die moderne Ukraine. Das Land ist nicht mehr dasselbe wie 2014, als die Einnahme der Krim für die russischen Truppen ein Spaziergang war und im Donbass nur improvisierter Widerstand geleistet werden konnte. Die Armee ist stärker und kämpft mit aller Entschlossenheit, aber vor allem ist die ganze ukrainische Gesellschaft heute selbstbewusster, mutiger und pluralistischer als je zuvor. In allen Teilen des Landes, auch in der Ostukraine hat sich das entwickelt, was Putin um jeden Preis in der Ukraine, vor allem aber in Russland selbst verhindern will: eine aktive, kritische, fordernde Zivilgesellschaft. Die ukrainische Gesellschaft hat auf dem Maidan nur begonnen, ihr Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Aus der Protestbewegung von 2014 entwickelte sich eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen und Initiativen. Aktivistinnen schlugen demokratische Reformen vor und entwarfen ganze Gesetze, sie kämpften gegen die Korruption, sie gründeten neue Medien. Sie wurden Abgeordnete oder errichteten Netzwerke, um die Demokratisierung des Landes voranzubringen. Viele Bürgerinnen, die sich zuvor noch nie engagiert hatten, begannen, in kleinen Initiativen aktiv zu werden – sei es, um Spenden für das Militär in der Ostukraine zu sammeln, oder um Urban-Gardening-Projekte voranzubringen. Zugleich gab es einen Aufschwung von Kunst und Kultur – insbesondere in den industriell geprägten Städten der Ostukraine, die durch die Besetzung und Ausrufung der sogenannten Volksrepubliken einen rasanten Wandel erlebten. Damals kamen Binnenflüchtlinge aus den besetzten Gebieten, aber auch Verwaltungen und neue Aufgaben in 100.000-Einwohner-Städte wie Bachmut, Kramatorsk, Lyssitschank oder Slowjansk. Unter den Geflüchteten waren Künstlerinnen, NGO-Aktivisten, Wissenschaftlerinnen, von denen viele weiterzogen nach Dnipro oder Kiew, aber manche auch ganz bewusst blieben. Ihr Bleiben ermöglichte das Wachsen einer Zivilgesellschaft und einer lebhaften, kritischen Kulturszene, die noch vor einem Jahrzehnt in der Ostukraine undenkbar gewesen wäre. Gerade hier, in direkter Nähe der Separatistengebiete, geschah die Demokratisierung intensiver und schneller als je zuvor. In der ganzen Ukraine entwickelte sich seit 2014 eine Zivilgesellschaft, die der russischen in Sachen Vielfalt, Freiheit und Selbstbewusstsein Lichtjahre voraus ist. Und so verletzlich, krisenhaft und unperfekt die junge ukrainische Demokratie auch sein mag – sie hat sich in vielen Teilen der Gesellschaft verwurzelt. Polizei und Militär, Verwaltung auf nationaler wie auf kommunaler Ebene, Parlament und Räte, Medien, Stadtteil-, Dorf- und Hausgemeinschaften: Sie alle haben in den letzten Jahren Mitsprache und Verhandeln kennengelernt. Der gesellschaftliche Konsens in der Ukraine ist kein autoritärer oder post-sowjetischer mehr, sondern ein europäischer. Diese Errungenschaft wird sich die Ukraine so leicht nicht nehmen lassen. Für Putins Herrschaftsmodell ist das alles eine unerhörte Provokation. Sein Krieg zielt nicht nur auf die Ukraine als eigenständigen Staat ab, sondern auch auf eine sich fortwährend demokratisierende Gesellschaft, die autoritäre Macht nicht länger hinzunehmen bereit ist. Um dieses Land nicht nur zu besetzen, sondern auch zu kontrollieren, bräuchte Putin eine geschlossene Machtelite vor Ort, wohlwollend-autoritäre Militärs, Geheimdienste und Financiers, sowie eine passive, verängstigte Gesellschaft. Es bräuchte ein hartes, vollständig von außen aufgesetztes Regime, das alle demokratischen Impulse konsequent untergräbt. Vielleicht kann Putin das eine Weile gelingen, aber der Preis wäre enorm. Dieser Weg wäre mit Leichen gepflastert, denn die demokratische Elite im Land – viele hundert, wahrscheinlich eher Tausende Menschen, die Institutionen, Zivilgesellschaft und Kultur in den letzten Jahren aufgebaut und von innen demokratisiert haben – müssen mit Säuberungsaktionen, Schauprozessen und Lagerhaft rechnen. Nichts anderes meint Putin, wenn er von der "Entnazifizierung und Demilitarisierung" der Ukraine spricht. Dessen sollte sich auch der Westen bewusst sein. Aber Demokratie in der Ukraine war spätestens seit 2014 kein Elitenprojekt mehr. Die ganze Gesellschaft weiß, was errungen wurde und wie es sich anfühlt, in einem freien Land zu leben. Und ähnlich wie bei der Solidarność im sozialistischen Polen können Widerstand und demokratischer Geist in der Mitte der Gesellschaft eine Diktatur überdauern und am Ende in die Knie zwingen. Wer die Geschichte der Ukraine kennt, weiß, dass sie seit Langem mit zivilem Widerstand verbunden ist: die erfolgreichen Proteste gegen Wahlbetrug bei den Präsidentschaftswahlen im November 2004, die Initiativen gegen das Regime von Leonid Kutschma in den Neunzigern, die Bergarbeiterstreiks und Proteste in den Achtzigern und die sehr aktiven antisowjetischen Dissidenten der Siebziger und Sechziger spiegeln das Durchhaltevermögen und den Drang nach Selbstbestimmung, der diese Gesellschaft treibt. Angesichts all der dramatischen Ereignisse, die die Ukraine in den letzten 100 Jahren erleben musste – Sowjetisierung, Holodomor, Holocaust, Weltkrieg, Russifizierung, Oligarchisierung und nun russischen Neo-Imperialismus – ist es erstaunlich, wie friedlich und stark dieses Land dabei über die Jahrzehnte geblieben ist. In der ukrainischen Nationalhymne heißt es geradezu poetisch: "Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne", getragen in g-Moll. Keine Marschmusik, kein sinfonisches Säbelrasseln, sondern die Geduldsamkeit der Ukraine, das endliche Auflösen von Konflikten wird hier besungen. Putin sollte die ukrainische Fähigkeit des Aushaltens nicht unterschätzen und der Westen wäre gut beraten, diesem zutiefst europäischen Land, mit ganzem Herzen und allen verfügbaren Sanktionen gegenüber Russland beizustehen.