Tuesday, August 2, 2022
KOMMENTAR - Die Taliban sind endgültig entlarvt – und mit ihnen die Naivität der Regierung in Washington
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
KOMMENTAR - Die Taliban sind endgültig entlarvt – und mit ihnen die Naivität der Regierung in Washington
Andrea Spalinger - Gestern um 13:39
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Vordergründig ist die Tötung von Aiman al-Zawahri für den amerikanischen Präsidenten ein grosser Erfolg. Der Chef der Kaida ist mit einem Drohnenangriff wie aus dem Lehrbuch ausgeschaltet worden. Hellfire-Raketen trafen ihn auf dem Balkon einer Villa in Kabul, in der er sich mit seiner Familie versteckt hatte – eine präzise amerikanische Operation, die keine weiteren Opfer forderte. Joe Biden verkauft diese denn auch als Beweis dafür, dass er recht hatte, als er behauptete, Washington könne seine Feinde am Hindukusch bekämpfen, ohne dort Truppen stationiert zu haben.
Einst terrorisierten sie die Bewohner der afghanischen Hauptstadt, heute sind die Leute um Sirajuddin Haqqani für die Sicherheit in Kabul zuständig.
Der meistgesuchte Terrorist – mitten in Kabul
Die Ermordung des meistgesuchten Terroristen im Herzen der afghanischen Hauptstadt hat allerdings eine düstere Wahrheit ans Licht gebracht, die Biden nicht länger schönreden kann: Unter den Taliban breiten sich in Afghanistan wieder globale Terrorgruppen wie die Kaida und der IS aus. Es geschieht also genau das, was die USA mit ihrem fragwürdigen Abkommen mit den Taliban verhindern wollten.
Der überstürzte Abzug der amerikanischen und anderer westlicher Truppen aus Afghanistan und die dadurch ermöglichte Machtübernahme der Taliban vor einem Jahr waren für das Land in jeder Hinsicht verheerend. Die Islamisten haben dort ein neues Schreckensregime geschaffen und treten die Rechte von Frauen, religiösen Minderheiten und Andersdenkenden mit Füssen.
Die ehemaligen westlichen Verbündeten haben das in Kauf genommen, weil sie des Krieges müde waren. Man könne den Afghanen Demokratie und westliche Werte nicht aufzwingen, wurde argumentiert. Frieden und Sicherheit hätten nun Priorität. Man war so naiv anzunehmen, dass sich Afghanistan unter einem autoritären Taliban-Regime stabilisieren werde.
Die einzige konkrete Zusage der Taliban in dem Abkommen mit der Regierung von Donald Trump 2020 war, dass sie die Kaida und den IS bekämpfen würden. Auch Trumps Nachfolger Biden, der den im Gegenzug versprochenen Truppenabzug umsetzte, schien dieses Versprechen ernst zu nehmen. Dabei war klar, dass die Taliban die engen personellen und ideologischen Verbindungen zur Kaida nicht kappen würden. Umso mehr, als innerhalb der Taliban bereits damals die Hardliner um Sirajuddin Haqqani an Einfluss gewannen. Sie dominieren mittlerweile das Regime in Kabul.
Spätestens an diesem Wochenende sollte nun auch den letzten Zweckoptimisten klar geworden sein, dass die Taliban den Deal mit Washington nie ernst genommen haben. Aiman al-Zawahri war bereits Anfang dieses Jahres mit Frau, Tochter und Enkelkindern aus seinem früheren Versteck in Pakistan nach Kabul gezogen. Dort genoss er offenbar grössere Freiheiten und veröffentlichte wieder häufiger Stellungnahmen.
Der 71-Jährige schien sich wohlgefühlt zu haben in seiner Villa im reichen Kabuler Viertel Sherpur, wo einst einflussreiche Warlords, Politiker und Diplomaten lebten und nun auch viele hochrangige Taliban-Vertreter wohnen. Ohne das Wissen des allmächtigen Innenministers Sirajuddin Haqqani, dessen Leute die Polizei und die Geheimdienste kontrollieren, wäre das schlicht nicht möglich gewesen.
Laut einigen Quellen gehörte die Villa, in welcher der Kaida-Chef getötet wurde, gar jemandem aus dem Umfeld von Haqqani. Auch deshalb dürften die Taliban unmittelbar nach dem Drohnenangriff versucht haben, Spuren von Zawahri zu beseitigen. Doch die Amerikaner hatten den Kaida-Chef seit Monaten auf dem Radar und wussten, dass sie den richtigen Mann erwischt hatten.
Ein Terroristenchef als Innenminister
Das Haqqani-Netzwerk ist für die schlimmsten Terroranschläge in Kabul und den umliegenden Provinzen in den vergangenen zwanzig Jahren verantwortlich. Unter Sirajuddin Haqqani hat es sich weiter radikalisiert und sich dem globalen Jihad verschrieben. Es pflegte enge Beziehungen zur Kaida und war unter anderem auch für die Logistik von Attentaten des IS und anderer Terrorgruppen zuständig.
Dass jemand wie Haqqani heute in Kabul das Sagen hat, ist nicht nur für die meisten Afghanen unerträglich. Es muss auch die USA beunruhigen. Unter Leuten wie ihm wird das südasiatische Land wieder zu einem Unruheherd und zu einer Brutstätte für alle möglichen Terrorgruppen. Laut einem Uno-Bericht haben sich nach der Machtübernahme der Taliban zahlreiche hochrangige Kaida-Mitglieder in Kabul niedergelassen.
Biden wird sie nicht alle mit aufwendigen Drohnenangriffen ausschalten können. Nach dem Truppenabzug bleiben ihm und seinen europäischen Verbündeten aber auch nicht mehr viele andere Druckmittel.
Eine Anerkennung des Regimes in Kabul ist nun auf jeden Fall noch mehr in die Ferne gerückt. Die USA und andere westliche Regierungen werden sich nach den jüngsten Ereignissen schwertun, selbst ihre eingeschränkten Kontakte zur afghanischen Regierung aufrechtzuerhalten. Für die Afghanen, die dringend auf mehr internationale Hilfe angewiesen wären, ist das ein weiterer schwerer Schlag.