Tuesday, May 17, 2022

„Es gibt ein paar Hinweise, die veranlassen zu glauben: Putin sucht nach einer Lösung“

„Es gibt ein paar Hinweise, die veranlassen zu glauben: Putin sucht nach einer Lösung“ WELT Tatjana Ohm - Gestern um 16:30 Die russische Armee hat mehr als 260 ukrainische Kämpfer aus dem belagerten Stahlwerk in Mariupol evakuiert und öffentlichkeitswirksam nach Russland gebracht. Auf breiter Front aber verläuft die russische Offensive im Osten der Ukraine weniger erfolgreich. Roland Kather, Generalleutnant a.D., blickt im Interview mit dem WELT Nachrichtensender auf den Frontverlauf. Er arbeitete unter anderem als stellvertretender Leiter des Führungszentrums der Bundeswehr und als militärischer Vertreter Deutschlands bei der Nato und der EU. WELT: Herr Kather, im Stahlwerk in Mariupol haben sich die noch verbliebenen ukrainischen Verteidiger in russischer Hand begeben. Ist das ein Aufgeben? Roland Kather: Ich denke nein. Ich glaube, das ist praktische Realpolitik. Der Fokus der Öffentlichkeit war in den letzten Tagen so auf Mariupol gerichtet – vor allen Dingen auf diese armen Kerle, die dort verwundet in den Kellern hausten –, dass Putin sich letztendlich entschlossen hat, beizugeben. Er hat einen Kompromiss gefunden, der ihm hilft, indem die verwundeten ukrainischen Soldaten zunächst in russische Obhut kommen. Sie werden dort behandelt und medizinisch betreut. Ich glaube und hoffe, es wird ihnen gut gehen und nichts passieren. Dann wird man später darüber nachdenken, ob es zu einem Gefangenenaustausch kommt. Insofern glaube ich, es handelt sich hier um einen humanitären Akt. Und wenn ich ergänzen darf: Es gibt ein paar Hinweise, die mich veranlassen zu glauben, Putin sucht nach einer Lösung. WELT: Welche weiteren Hinweise sind das also? Kather: Seine Scharfmacher wollen uns in dem Glauben lassen, der Beitritt von Finnland und Schweden zur Nato würde zu schwersten Konsequenzen führen – auch militärischer Art. Ich habe Putin gestern aber so verstanden, dass er sagt: Der Beitritt ärgert mich fürchterlich, aber dann müssen wir mal gucken, wie sich das wirklich entwickelt. Das war schon im Ton deutlich verbindlicher. WELT: Könnten es die Realitäten auf dem Schlachtfeld sein, die ihn zu dieser Äußerung bringen? Wenn wir in den Osten der Ukraine schauen, sehen wir, dass Truppen nordöstlich von Charkiw bis an die ukrainisch-russische Grenze zurückgetrieben werden. Der eigentliche Plan, ukrainische Truppen um Isjum einzukreisen kommt auch nicht voran. Kather: Das ist mit Sicherheit so. Die ukrainischen Streitkräfte verteidigen nicht nur tapfer, sondern sind in vielen Bereichen zu lokalen, ja regionalen Gegenangriffen übergegangen. Wenn die Bilder stimmen, sind sie bis an die russische Grenze gekommen und haben damit die Möglichkeit beispielsweise jetzt ihrerseits den russischen Nachschub zu stoppen, indem sie Kommunikationslinien von Belgorod oder anderen Städten unterbrechen. Ich glaube schon, dass diese Lage alles andere als förderlich für das ist, was Putin will. WELT: Die russischen Truppen sind nördlich und um Kiew herum aufgrund von Nachschub- und Logistikproblemen nicht vorangekommen. Als sie sich zurückgezogen haben, haben viele Militäranalysten, darunter auch Sie, gesagt, die Armee werde daraus lernen und das im Osten anders machen. Erkennen Sie einen Lerneffekt? Kather: Nein, ich muss ehrlich gestehen, ich erkenne keinen Lerneffekt. Ganz im Gegenteil: Ich habe den Eindruck, dass die Erfolge der ukrainischen Streitkräfte mit ihrer herausragenden Moral aus russischer Sicht nicht dazu geführt haben, dass irgendwas erreicht wird. Aus militärischer Sicht sehe ich zwei Probleme für die Russen: Die Entfernung von Charkiw nach Luhansk beträgt knapp 300 Kilometer. Dort eine geschlossene Front bilden zu wollen, halte ich für nahezu aussichtslos, selbst unter Beachtung der gewaltigen Menge oder an Soldaten, die die russische Seite dort aufbietet. Und das Zweite ist der Donezk-Fluss, der dort das Land durchstreift, mit unbeschreiblich vielen Nebenflüssen. Es ist also unheimlich schwierig, dort eine weiträumige Bewegung im Sinne eines raumgreifenden Angriffs durchzuführen. Insofern begünstigt auch das Gelände den Verteidiger, zumal er sein eigenes Vaterland verteidigt, es kennt und damit seine Moral ganz anders ist als die der russischen Soldaten. WELT: Spannendes Gespräch, Herr Kater. Ich danke dafür.