Sunday, August 7, 2022

Wahlkampf in Italien: Warum Demokratie demokratische Verfahren braucht

Tagesspiegel Wahlkampf in Italien: Warum Demokratie demokratische Verfahren braucht Andrea Dernbach - Gestern um 16:21 | Italiens Wahlgesetz zwingt zu absurden Wahlbündnissen. Das hilft seit Jahren der radikalen Rechten, diesmal womöglich ins Ministerpräsidentenamt. Ein Kommentar. PD-Chef Enrico Letta verkündet die Allianz mit Grünen und Linken. Italiens kurzer und kurzfristig ausgebrochener Wahlkampf hat begonnen, bei Rekordhitze und kurz vor dem traditionell toten Punkt des italienischen Jahrs, Ferragosto am 15. August. Das stehen üblicherweise alle Räder still, doch die Kampagne beginnt erstaunlich laut und verspricht auf den ersten Blick Spannung. Wer koaliert mit wem, wer gar nicht, wer löst womöglich Absprachen wieder auf, die nur Tage alt sind? Dass es vor allem darum geht, liegt am Wahlgesetz von 2017, das Bündnisse bereits vor der Wahl quasi erzwingt. Wegen nötiger Absprachen über Wahlkreiskandidat:innen sind Köpfe und Parteien zusammengezwungen, die oft nichts gemeinsam haben als ihr Feindbild, nämlich das gegnerische Bündnis. Und, klar, den verständlichen Wunsch, möglichst viele Sitze im Parlament zu besetzen. „Unglücklich“, „pervers“, ja „eine Schande“: Das sogenannte „Rosatellum“ von 2017 ist zurecht ein ungeliebtes Wahlgesetz. Geändert hat es dennoch keine der drei Regierungen der letzten Legislatur. In der Kampagne in diesem Hochsommer erweist sich die Zwangsjacke aber als besonders demokratiefeindlich. Während eine immer militantere und anti-antifaschistisch auftretende Rechte geeint in die Wahl am 25. September geht, ist das einst als Mitte-Links bezeichnete Lager nicht nur zerstritten: Die „Anti-Rechte“, wie sie in immer mehr Kommentaren heißt, bietet auch keine wirkliche Alternative gegen Rechts. Der sich sozialdemokratisch verstehende Partito democratico (PD) hat sich auf ein Wahlbündnis mit eigenen Rechtsabspaltungen eingelassen, der Kleinpartei des früheren PD-Chefs Renzi und der eines anderen Ex-Sozialdemokraten. Und sich ihnen auch programmatisch angeschlossen. Die Sozialdemokratie sammelt sich um das Programm eines Zentralbankers Das Stichwort dafür lautet „Agenda Draghi“, ein unklares Substrat jener Ankündigungen, die der gefallene Premier in seiner letzten Rede vor dem Senat ausgebreitet hat. Erst spät warb PD-Chef Enrico Letta auch um Italiens kleine Grüne Partei und „Sinistra Italiana“ („Italienische Linke“). Die haben sich ihm und seinem Zentrum an diesem Wochenende zähneknirschend angeschlossen. Völlig außen vor blieb, ausgerechnet, die Fünf-Sterne-Bewegung, auf die Massen linker Wähler:innen bei der Wahl vor fünf Jahren gesetzt hatten. Grund? „Auf keinen Fall mit denen, die Draghi gestürzt haben!“, lautet seit Wochen der Schlachtruf der Nichtrechten. Beunruhigend daran ist, dass eine sozialdemokratische – linke? – Partei sich kein eigenes Programm schreibt, sondern eines abschreibt, ausgerechnet beim ehemaligen Zentralbanker Draghi. Damit steht sie auch für Abriss der großen sozialstaatlichen Errungenschaft dieser Legislatur: des Bürgergelds. Der „Reddito di cittadinanza“, war ein Projekt der Fünf Sterne. Draghi wollte dessen Revision, viele fürchten das Ende dieses recht effektiven Werkzeugs gegen die wachsende Armut. Das Wahlgesetz hat die Linke dazu gebracht, sich auf Stimmenjagd immer mehr nach rechts zu öffnen. Ergebnis: Der Sozialstaat, Umwelt, eine Politik gegen Ungleichheit stehen nicht mehr auf dem Wahlzettel. Wo Alternativen fehlen, ist aber die Demokratie selbst ausgehebelt. Dies in einem EU-Gründungsstaat – in dem im Oktober womöglich die erste anti-antifaschistische Ministerpräsidentin, Georgia Meloni von den „Fratelli d’Italia“, den 100. Jahrestag von Mussolinis „Marsch auf Rom“ begehen wird.